Der 7. Oktober markiert für Jüdinnen und Juden die Erfahrung, dass die Vernichtung wiederkommen kann, sagt die Psychologin und Autorin Marina Chernivsky. Woher kommt die Kälte, mit der Nichtjuden in Deutschland darauf reagierten?
Mit dem 7. Oktober hat sich für Juden in Deutschland alles verändert
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 rollt eine Welle des Antisemitismus durch die Welt. Auch in Deutschland ist die Zahl antisemitischer Vorfälle stark gestiegen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) verzeichnete im vergangenen Jahr 8.627 Vorfälle – fast 77 Prozent mehr als im Vorjahr. Kein Wunder, dass auch die Beratungsstelle für Betroffene, OFEK, einen stark gestiegenen Bedarf meldet. Die geschäftsführende Vorständin von OFEK, Marina Chernivsky, arbeitet seit rund 25 Jahren im Bereich der antisemitismuskritischen Bildung und Beratung, aber auch Forschung. Gefährlicher als der Hass sei jedoch die Distanz und Passivität der großen Mehrheit der Deutschen.
der Freitag: Frau Chernivsky, was ist Ihr Eindruck, wie geht es dem deutschen Judentum heute, zwei Jahre nach dem 7. Oktober?
Marina Chernivsky: Mit dem 7. Oktober ist eine neue jüdische Erfahrung entstanden. Für die Generationen, die jetzt leben, ist das die Erfahrung, dass die Gewalt, selbst in dieser extremen Form, wiederkommen kann. Nicht unbedingt in der Form der Shoah, aber der 7. Oktober ist eine Reinkarnation dieser Vernichtungsabsicht und der Vernichtungstat. Das Besondere an dieser Gewalt, in die sich der 7. Oktober einreiht, ist die Botschaftstat, die bewusst und gezielt auf eine Gruppe – auch außerhalb von Israel – gerichtet ist. Und diese Form von Gewaltausübung und Gewaltabsicht versetzt Menschen, die sich zu dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen, in eine kollektive Position der Zeitzeugenschaft. Das zu verstehen ist aber nur der erste Schritt.
Was ist der zweite?
Die Reaktion darauf. Die Distanz, das Nichtwissenwollen im mehrheitsgesellschaftlichen Umfeld. Dass selbst die Vernichtung vor den Augen der Welt nichts nützt, so wie damals die Vernichtung nicht genützt hat, um die jüdische Erfahrung einzuschließen. Es hat nahezu vier Jahrzehnte gebraucht, um anerkannt zu werden. Ich glaube, dieser Spalt wird bleiben. Also bei mir definitiv.
Was meinen Sie mit diesem Spalt?
Es geht um das historische Beziehungsgeflecht zwischen Juden und Nichtjuden. Da ist eine sehr bemerkenswerte, familial und gesellschaftlich tradierte Distanz, die im Alltag so spürbar wird. Vielleicht sind die Juden für die Deutschen so eine Art historische Figur, die sie nicht kennen, aber vermittelt bekommen. Es sind Juden, die man im Museum besuchen kann. Dann kehrt man zurück zum eigenen Leben, wo Jüdinnen und Juden nicht vorkommen. Wenn Menschen nicht vorkommen, bleiben sie auf Distanz. Und vielleicht müssen sie auf Distanz gehalten werden, damit man sie nicht an sich heranlässt, keine wirkliche Beziehung eingeht. Das ist nur ein Erklärungsansatz für die Reaktionen auf den 7. Oktober, auf den mit sozialer Kälte und emotionaler Abstinenz reagiert wurde.
Ich würde sagen, dass der Mehrheitsgesellschaft die grundsätzliche Fähigkeit zur Sympathie für Juden fehlt
Maria Chernivsky
Können Sie diese Beziehung genauer erklären?
Die Deutschen und die Juden sind miteinander verflochten. Ich würde sogar sagen, aneinandergekettet. Wenn Menschen, vor allem Gruppen, durch Gewaltgeschichte miteinander verbunden sind, kann man diese Erfahrung nicht einfach lassen. Sie wird bleiben und ist in alltäglichen Beziehungen dennoch wirksam, wenn auch ungewollt. Ich würde sagen, dass der Mehrheitsgesellschaft die grundsätzliche Fähigkeit zur Sympathie für Juden fehlt. Es gab Menschen, denen es nicht möglich war, nach dem 7. Oktober etwas zu empfinden, auch wenn es zu Anfang viel Zuspruch gegeben hat. Das ist nicht immer Hass, um den es im Diskurs geht. Auch nicht die Verweigerung der Empathie, sondern der Entzug von Zuneigung. Vielleicht ist es ein Zustand fortwährender Nicht-Verbindung trotz einer kontinuierlichen historischen Präsenz.
Hat es Sie überrascht, wie leicht das Gewaltgedächtnis zu reaktivieren war?
Nein, aber am 7. Oktober habe ich es zum ersten Mal körperlich so gespürt. Ich musste feststellen, dass mein Erleben dem vieler anderer ähnelt – obwohl ich beruflich eigentlich mit allen notwendigen Widerstandsressourcen ausgestattet bin. Doch es ist nicht abgeschlossen: Durch die antisemitische Mobilisierung ist es ein permanenter Zustand psychischer wie gesellschaftlicher Erregung. Die Triggerkulisse läuft seit dem 7. Oktober beständig mit.
Was hat Sie veranlasst, dieses Buch zu schreiben?
Das Bedürfnis, anders zu schreiben, war schon früher da – es hing unter anderem mit biografischen Erfahrungen zusammen. Die Kriege, die Terroranschläge in Israel, die von Paris, vom Breitscheidplatz in Berlin, von Halle – ich erinnere mich an alles sehr genau, sie haben mich tief verändert. Mit dem Krieg in der Ukraine begann ich, Tagebuch zu schreiben. Am 7. Oktober briet ich wie immer Pfannkuchen für die Kinder. Die Nachrichten drangen nur bruchstückhaft zu mir durch. Ich musste meine Gedanken und Gefühle aufschreiben. Es war zu groß, zu schwer. Seitdem habe ich das immer wieder getan. Und ich habe gemerkt, wie viel Freiheit darin liegt. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu holen und sie irgendwo ablegen zu können.
„Bruchzeiten“ spannt biografisch einen großen Rahmen auf. Es geht um Ihre Kindheit in L‘viv. Die Jugend in Israel und wie Sie 2000 nach Deutschland kamen. Sie sind jetzt 25 Jahre hier. Wie blicken Sie auf diese Zeit?
Die chronologische Zeit spielt für mich weniger eine Rolle; zu ihr habe ich ohnehin ein widersprüchliches Verhältnis. Ich hatte nicht den Plan, nach Berlin zu kommen. Ich kam nicht, um zu bleiben – und bin doch geblieben. Ich kam, um jenen Krieg zu verstehen, und habe in Berlin noch einmal anders begriffen, wie tief meine Sehnsucht nach Geschichtlichkeit ist. Hier habe ich das Deutsche gesucht, aber auch das Jüdische. Ich spürte die Geschichte in mir. Aber auch in den Orten. Ich weiß noch, wie ich vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße stand und dachte: Wow. Jetzt bin ich hier. Ich trat in ein Erbe ein, das nur teilweise mein eigenes war, und habe es mit meinem verbunden. Ich wollte wissen, wie die deutsche Gesellschaft mit der Geschichte umgeht. Und wie dieses Erbe auf die Nachkommen wirkt. Bis heute ist es ein zentraler Aspekt meiner Arbeit hier.
Mein erster Schuleinsatz war eine unheimliche Situation. Der Lehrer hat vor der Klasse mehrere Male wiederholt: Schaut mal, sie ist Jüdin
Marina Chernivsky
Sie haben die antisemitismus-kritische Bildungsarbeit in Deutschland mitentwickelt. Wie fing das an?
Anfangs ging ich als Trainerin in Schulen. Mein erster Schuleinsatz war 2003 in Hohenschönhausen. Der Lehrer war ein junger Mann und wirkte im Kontakt mit mir etwas verwirrt und mitgenommen. In der Klasse stand er die ganze Zeit an der Wand und hat das Geschehen schweigsam beobachtet. Es war für mich damals eine unheimliche Situation. Er hatte vor seiner Klasse mehrere Male wiederholt: Schaut mal, sie ist Jüdin. In irgendeinem Moment habe ich gefragt, ob es eine Rolle spiele, wer ich bin, oder eher, was ich den Kindern vermitteln möchte. Und dann war er verstummt. Ich erinnere mich an eine Situation in Fürstenwalde in Brandenburg im Jahr 2005. Die Schulleiterin zeigt auf meine Kollegin, die blond ist, und sagt: Wir haben Juden eingeladen. Ich wollte all das genauer verstehen. Für mich stand die Dynamik der postnationalsozialistischen Gesellschaft lange im Mittelpunkt – insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie Bildung zu oder gegen Antisemitismus funktionieren soll und kann.
Und was haben Sie entdeckt?
Ich habe dann viel gelesen, um die Weitergaben und Lücken zu verstehen. Die Arbeiten von Dan Diner, von Kurt Grünberg, auch die von Dan Bar-On waren wichtige Grundlagen. Bar-On und Konrad Brendler führten qualitative Interviews zu Rezeption und Wahrnehmung der deutschen Jugendlichen von Juden und Antisemitismus. Sie stellten mitunter fest, dass das historische Wissen zwar vorhanden, aber emotional nicht zugänglich war. Es hat sich ein (Nicht-)Wissen tradiert – auch eine Form von Verweigerung, vielleicht auch Unzulänglichkeit, da die Familien davon unberührt blieben und die Erkenntnis erst sehr spät einsetzte. Nichts davon spielte eine Rolle für Bildungsprozesse; ich wollte es ändern.
Wir kommen wieder an den Punkt, dass der Schutz ausbleibt, weil die Gewalt gegen Juden in der Öffentlichkeit stattfinden kann
Marina Chernivsky
Hat sich denn nichts verändert in den vergangenen 25 Jahren?
Nichts von dem, was wir heute erleben, ist neu. Aber zu unseren Lebzeiten stellt der 7. Oktober eine neue Dimension dar. Aber wenn ich die Enzyklopädie jüdischer Geschichte aufschlage, dann finde ich auf jeder zweiten Seite das Wort Zäsur. Wir kommen immer wieder an denselben Punkt. Wir kommen an den Punkt, dass der Schutz ausbleibt, weil die Gewalt gegen Juden in der Öffentlichkeit stattfinden kann. Wir kommen an den Punkt, dass Juden über physische Sicherheit nachdenken müssen. Wir kommen an den Punkt, dass die soziale Mobilität eingeschränkt wird und die Auswanderung womöglich ins Auge gefasst wird. Dass die Frage gestellt wird, wann ist es zu spät? Und werde ich den Zeitpunkt erkennen?
Waren dann 25 Jahre Arbeit für die Katz?
Es ist schon manchmal so, als würden wir jetzt wieder von vorne anfangen. Das frustriert. Damals war es eine der Erkenntnisse der Jugendlichen, als wir noch Klassen besuchten: Wir haben heute gelernt, dass Juden auch Menschen sind. Das hat mich damals erschüttert. Da sieht man, dass die Entmenschlichung von Juden Früchte getragen hat. Wenn die Deutschen die Juden als Teil des Eigenen begreifen würden, hätten sie anerkennen müssen, dass sie einen Mord begangen haben. Aus dieser Abspaltung entsteht sehr viel Aggression. Diese Wahrnehmung ist nach wie vor da.
Welche Rolle spielt dabei die Erinnerungskultur?
Für mich ist ritualisierte Erinnerungskultur auch eine Praxis des Vergessens. Sie ist gleichzeitig wichtig, weil Menschen Ritualisierung brauchen, sonst wird nichts davon erhalten. Ich komme gebürtig aus einem Ort, wo es keine gab. Wo die Leere sprach. Aber in Deutschland gibt es diese tiefe Kluft zwischen der politischen und der gesellschaftlichen Ebene. Das hat sich gezeigt nach dem 7. Oktober. Wie weit die Menschen von Juden biografisch weg sind. Aber vielleicht auch von sich selbst.
Der Titel Ihres Buches ist „Bruchzeichen“. Haben Sie die Sorge, dass dieser Bruch so tief werden könnte, dass jüdisches Leben in Deutschland unmöglich wird?
Ich weiß es nicht. Die Passivität, das Schweigen haben etwas Dröhnendes. Für mich ist es eine Bestätigung dafür, dass das, was ich vor 25 Jahren wahrgenommen habe, nicht erloschen ist. Es ist eine Form des Nichtverstehenkönnens und -wollens. Ich will kein düsteres Szenario zeichnen, aber ich glaube, wir wissen, woran wir sind. Gleichwohl lässt sich all das aktiv unterbrechen; die Entscheidung liegt jederzeit in unserer Macht.
Marina Chernivsky kam im ukrainischen L’viv zur Welt und wuchs in Israel auf, ehe sie 2000 zum Studium nach Berlin kam. Sie ist Psychologin, Gründerin und geschäftsführende Vorständin der Beratungsstelle OFEK e. V. Ihr Buch Bruchzeiten erschien bei S. Fischer
der Freitag: Frau Chernivsky, was ist Ihr Eindruck, wie geht es dem deutschen Judentum heute, zwei Jahre nach dem 7. Oktober?Marina Chernivsky: Mit dem 7. Oktober ist eine neue jüdische Erfahrung entstanden. Für die Generationen, die jetzt leben, ist das die Erfahrung, dass die Gewalt, selbst in dieser extremen Form, wiederkommen kann. Nicht unbedingt in der Form der Shoah, aber der 7. Oktober ist eine Reinkarnation dieser Vernichtungsabsicht und der Vernichtungstat. Das Besondere an dieser Gewalt, in die sich der 7. Oktober einreiht, ist die Botschaftstat, die bewusst und gezielt auf eine Gruppe – auch außerhalb von Israel – gerichtet ist. Und diese Form von Gewaltausübung und Gewaltabsicht versetzt Menschen, die sich zu dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen, in eine kollektive Position der Zeitzeugenschaft. Das zu verstehen ist aber nur der erste Schritt.Was ist der zweite?Die Reaktion darauf. Die Distanz, das Nichtwissenwollen im mehrheitsgesellschaftlichen Umfeld. Dass selbst die Vernichtung vor den Augen der Welt nichts nützt, so wie damals die Vernichtung nicht genützt hat, um die jüdische Erfahrung einzuschließen. Es hat nahezu vier Jahrzehnte gebraucht, um anerkannt zu werden. Ich glaube, dieser Spalt wird bleiben. Also bei mir definitiv.Was meinen Sie mit diesem Spalt?Es geht um das historische Beziehungsgeflecht zwischen Juden und Nichtjuden. Da ist eine sehr bemerkenswerte, familial und gesellschaftlich tradierte Distanz, die im Alltag so spürbar wird. Vielleicht sind die Juden für die Deutschen so eine Art historische Figur, die sie nicht kennen, aber vermittelt bekommen. Es sind Juden, die man im Museum besuchen kann. Dann kehrt man zurück zum eigenen Leben, wo Jüdinnen und Juden nicht vorkommen. Wenn Menschen nicht vorkommen, bleiben sie auf Distanz. Und vielleicht müssen sie auf Distanz gehalten werden, damit man sie nicht an sich heranlässt, keine wirkliche Beziehung eingeht. Das ist nur ein Erklärungsansatz für die Reaktionen auf den 7. Oktober, auf den mit sozialer Kälte und emotionaler Abstinenz reagiert wurde.Ich würde sagen, dass der Mehrheitsgesellschaft die grundsätzliche Fähigkeit zur Sympathie für Juden fehltMaria ChernivskyKönnen Sie diese Beziehung genauer erklären?Die Deutschen und die Juden sind miteinander verflochten. Ich würde sogar sagen, aneinandergekettet. Wenn Menschen, vor allem Gruppen, durch Gewaltgeschichte miteinander verbunden sind, kann man diese Erfahrung nicht einfach lassen. Sie wird bleiben und ist in alltäglichen Beziehungen dennoch wirksam, wenn auch ungewollt. Ich würde sagen, dass der Mehrheitsgesellschaft die grundsätzliche Fähigkeit zur Sympathie für Juden fehlt. Es gab Menschen, denen es nicht möglich war, nach dem 7. Oktober etwas zu empfinden, auch wenn es zu Anfang viel Zuspruch gegeben hat. Das ist nicht immer Hass, um den es im Diskurs geht. Auch nicht die Verweigerung der Empathie, sondern der Entzug von Zuneigung. Vielleicht ist es ein Zustand fortwährender Nicht-Verbindung trotz einer kontinuierlichen historischen Präsenz.Hat es Sie überrascht, wie leicht das Gewaltgedächtnis zu reaktivieren war?Nein, aber am 7. Oktober habe ich es zum ersten Mal körperlich so gespürt. Ich musste feststellen, dass mein Erleben dem vieler anderer ähnelt – obwohl ich beruflich eigentlich mit allen notwendigen Widerstandsressourcen ausgestattet bin. Doch es ist nicht abgeschlossen: Durch die antisemitische Mobilisierung ist es ein permanenter Zustand psychischer wie gesellschaftlicher Erregung. Die Triggerkulisse läuft seit dem 7. Oktober beständig mit.Was hat Sie veranlasst, dieses Buch zu schreiben?Das Bedürfnis, anders zu schreiben, war schon früher da – es hing unter anderem mit biografischen Erfahrungen zusammen. Die Kriege, die Terroranschläge in Israel, die von Paris, vom Breitscheidplatz in Berlin, von Halle – ich erinnere mich an alles sehr genau, sie haben mich tief verändert. Mit dem Krieg in der Ukraine begann ich, Tagebuch zu schreiben. Am 7. Oktober briet ich wie immer Pfannkuchen für die Kinder. Die Nachrichten drangen nur bruchstückhaft zu mir durch. Ich musste meine Gedanken und Gefühle aufschreiben. Es war zu groß, zu schwer. Seitdem habe ich das immer wieder getan. Und ich habe gemerkt, wie viel Freiheit darin liegt. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu holen und sie irgendwo ablegen zu können.„Bruchzeiten“ spannt biografisch einen großen Rahmen auf. Es geht um Ihre Kindheit in L‘viv. Die Jugend in Israel und wie Sie 2000 nach Deutschland kamen. Sie sind jetzt 25 Jahre hier. Wie blicken Sie auf diese Zeit?Die chronologische Zeit spielt für mich weniger eine Rolle; zu ihr habe ich ohnehin ein widersprüchliches Verhältnis. Ich hatte nicht den Plan, nach Berlin zu kommen. Ich kam nicht, um zu bleiben – und bin doch geblieben. Ich kam, um jenen Krieg zu verstehen, und habe in Berlin noch einmal anders begriffen, wie tief meine Sehnsucht nach Geschichtlichkeit ist. Hier habe ich das Deutsche gesucht, aber auch das Jüdische. Ich spürte die Geschichte in mir. Aber auch in den Orten. Ich weiß noch, wie ich vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße stand und dachte: Wow. Jetzt bin ich hier. Ich trat in ein Erbe ein, das nur teilweise mein eigenes war, und habe es mit meinem verbunden. Ich wollte wissen, wie die deutsche Gesellschaft mit der Geschichte umgeht. Und wie dieses Erbe auf die Nachkommen wirkt. Bis heute ist es ein zentraler Aspekt meiner Arbeit hier.Mein erster Schuleinsatz war eine unheimliche Situation. Der Lehrer hat vor der Klasse mehrere Male wiederholt: Schaut mal, sie ist JüdinMarina Chernivsky Sie haben die antisemitismus-kritische Bildungsarbeit in Deutschland mitentwickelt. Wie fing das an?Anfangs ging ich als Trainerin in Schulen. Mein erster Schuleinsatz war 2003 in Hohenschönhausen. Der Lehrer war ein junger Mann und wirkte im Kontakt mit mir etwas verwirrt und mitgenommen. In der Klasse stand er die ganze Zeit an der Wand und hat das Geschehen schweigsam beobachtet. Es war für mich damals eine unheimliche Situation. Er hatte vor seiner Klasse mehrere Male wiederholt: Schaut mal, sie ist Jüdin. In irgendeinem Moment habe ich gefragt, ob es eine Rolle spiele, wer ich bin, oder eher, was ich den Kindern vermitteln möchte. Und dann war er verstummt. Ich erinnere mich an eine Situation in Fürstenwalde in Brandenburg im Jahr 2005. Die Schulleiterin zeigt auf meine Kollegin, die blond ist, und sagt: Wir haben Juden eingeladen. Ich wollte all das genauer verstehen. Für mich stand die Dynamik der postnationalsozialistischen Gesellschaft lange im Mittelpunkt – insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie Bildung zu oder gegen Antisemitismus funktionieren soll und kann.Und was haben Sie entdeckt?Ich habe dann viel gelesen, um die Weitergaben und Lücken zu verstehen. Die Arbeiten von Dan Diner, von Kurt Grünberg, auch die von Dan Bar-On waren wichtige Grundlagen. Bar-On und Konrad Brendler führten qualitative Interviews zu Rezeption und Wahrnehmung der deutschen Jugendlichen von Juden und Antisemitismus. Sie stellten mitunter fest, dass das historische Wissen zwar vorhanden, aber emotional nicht zugänglich war. Es hat sich ein (Nicht-)Wissen tradiert – auch eine Form von Verweigerung, vielleicht auch Unzulänglichkeit, da die Familien davon unberührt blieben und die Erkenntnis erst sehr spät einsetzte. Nichts davon spielte eine Rolle für Bildungsprozesse; ich wollte es ändern.Wir kommen wieder an den Punkt, dass der Schutz ausbleibt, weil die Gewalt gegen Juden in der Öffentlichkeit stattfinden kannMarina ChernivskyHat sich denn nichts verändert in den vergangenen 25 Jahren?Nichts von dem, was wir heute erleben, ist neu. Aber zu unseren Lebzeiten stellt der 7. Oktober eine neue Dimension dar. Aber wenn ich die Enzyklopädie jüdischer Geschichte aufschlage, dann finde ich auf jeder zweiten Seite das Wort Zäsur. Wir kommen immer wieder an denselben Punkt. Wir kommen an den Punkt, dass der Schutz ausbleibt, weil die Gewalt gegen Juden in der Öffentlichkeit stattfinden kann. Wir kommen an den Punkt, dass Juden über physische Sicherheit nachdenken müssen. Wir kommen an den Punkt, dass die soziale Mobilität eingeschränkt wird und die Auswanderung womöglich ins Auge gefasst wird. Dass die Frage gestellt wird, wann ist es zu spät? Und werde ich den Zeitpunkt erkennen?Waren dann 25 Jahre Arbeit für die Katz?Es ist schon manchmal so, als würden wir jetzt wieder von vorne anfangen. Das frustriert. Damals war es eine der Erkenntnisse der Jugendlichen, als wir noch Klassen besuchten: Wir haben heute gelernt, dass Juden auch Menschen sind. Das hat mich damals erschüttert. Da sieht man, dass die Entmenschlichung von Juden Früchte getragen hat. Wenn die Deutschen die Juden als Teil des Eigenen begreifen würden, hätten sie anerkennen müssen, dass sie einen Mord begangen haben. Aus dieser Abspaltung entsteht sehr viel Aggression. Diese Wahrnehmung ist nach wie vor da.Welche Rolle spielt dabei die Erinnerungskultur?Für mich ist ritualisierte Erinnerungskultur auch eine Praxis des Vergessens. Sie ist gleichzeitig wichtig, weil Menschen Ritualisierung brauchen, sonst wird nichts davon erhalten. Ich komme gebürtig aus einem Ort, wo es keine gab. Wo die Leere sprach. Aber in Deutschland gibt es diese tiefe Kluft zwischen der politischen und der gesellschaftlichen Ebene. Das hat sich gezeigt nach dem 7. Oktober. Wie weit die Menschen von Juden biografisch weg sind. Aber vielleicht auch von sich selbst.Der Titel Ihres Buches ist „Bruchzeichen“. Haben Sie die Sorge, dass dieser Bruch so tief werden könnte, dass jüdisches Leben in Deutschland unmöglich wird?Ich weiß es nicht. Die Passivität, das Schweigen haben etwas Dröhnendes. Für mich ist es eine Bestätigung dafür, dass das, was ich vor 25 Jahren wahrgenommen habe, nicht erloschen ist. Es ist eine Form des Nichtverstehenkönnens und -wollens. Ich will kein düsteres Szenario zeichnen, aber ich glaube, wir wissen, woran wir sind. Gleichwohl lässt sich all das aktiv unterbrechen; die Entscheidung liegt jederzeit in unserer Macht.