Schlimmer noch als die Schläge zu Hause waren die seelischen Verletzungen. Nachdem sich die 16-jährige Georgierin als homosexuell geoutet hatte, akzeptierte ihre Familie die Tochter nicht mehr, und die Gesellschaft grenzte sie aus. Hilfe, Zuwendung, Unterstützung gab es nicht. Im Gegenteil. Ihr Leben wurde zur Tortur. Irgendwann hielt es das Mädchen nicht mehr aus. Sie flüchtete. Allein.
Sie schaffte es nach Deutschland, und hier fand sie endlich Hilfe. 2022 wurde sie als unbegleitete Geflüchtete in einer Erstaufnahmestelle des Trägers „Navitas“ in Berlin aufgenommen. Vor allem die gebürtige Georgierin Giuli Kariquli kümmerte sich um das Mädchen. „Sie hat Vertrauen zu mir gefasst, weil sie mit mir in ihrer Muttersprache reden konnte“, sagt Kariquli, 41, eine in Tiflis ausgebildete Lehrerin. Sie kam 2018 selbst als Geflüchtete nach Deutschland.
Das Mädchen lebt längst nicht mehr in der Einrichtung, heute kümmert sich Kariquli um andere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF). Doch etwas hat sich geändert. Seit Dezember 2024 ist Giuli Kariquli anerkannte Erzieherin und kann dadurch mit viel größerer pädagogischer Kompetenz arbeiten als früher.
An der Belastungsgrenze Die Georgierin Giuli Kariquli hat schon eine Ausbildung als Lehrerin in Tiflis hinter sich. Seit vergangenem Dezember ist sie auch in Deutschland anerkannte Erzieherin.
© Frank Bachner
Am Gründonnerstag sitzt sie in den Geschäftsräumen von „Navitas“ zusammen mit weiteren neu zertifizierten Erzieherinnen. Alle sind ehemalige Geflüchtete, alle eingesetzt bei der Betreuung unbegleiteter Minderjähriger. Alle wurden von „Navitas“ ausgebildet. Kein anderer Träger hat so etwas bisher gemacht. Es ist ein Pilotprojekt mit insgesamt vier Einrichtungen und 180 Plätzen, das die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Berlin erheblich verbessert.
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22 Erzieherinnen hat „Navitas“ ausgebildet, 21 weitere Frauen und Männer sind noch in der Ausbildung. Auch Falko Liecke sitzt am Tisch, der zuständige CDU-Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. „Ich hoffe, andere Träger ziehen nach“, sagt er an die Gruppe gewandt, „das System braucht Menschen wie Sie.“
Denn das System ist unverändert an der Belastungsgrenze. 18.083 Fachkräfte – zum letzten verfügbaren Stichtag 15. Dezember 2022 – waren in der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigt, aber nur 4950 davon waren anerkannte Erzieher. Neues Personal wird dringend gesucht.
Die 22 Fachkräfte von „Navitas“ können dank ihres Zertifikats nun in jeder Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, sie entlasten also die Situation.
Aber der entscheidende Punkt ist ein anderer. Fast alle wollen weiterhin mit minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten arbeiten, in diesem Bereich, in dem Hilfe besonders nötig ist und für eine gelungene Integration besonders wichtig.
Die von „Navitas“ ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher können in jeder Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten.
© Frank Bachner
Die Ausbildung von „Navitas“ ist eine Reaktion auf „eine große Drucklage in den Jahren 2022 und 2023“, wie Falko Liecke es nannte. Damals kamen in einer Art überraschender Welle in 2022 plötzlich 3202 und im Jahr darauf 3104 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Berlin. 2021 waren es nur 699 gewesen. Das Hilfssystem drohte zu zersprengen.
Deshalb wurden kurzerhand viele Flüchtlinge mit pädagogischem Hintergrund –vor allem frühere Lehrer – zur Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen eingesetzt, Ex-Pädagogen wie Giuli Kariquli. Doch die Ausbildung als Erzieher fehlte ihnen.
Diese Lücke ist jetzt geschlossen. Candan Ögütcü, der Geschäftsführer von „Navitas“, zählt auf, was die zertifizierten Erzieher jetzt besser beherrschen. „Sie lernen viel über Kinderschutz, sie erkennen jetzt, wann ein Kinderschutzfall vorliegt und können entsprechend darauf reagieren.“ Und vor allem, betont Ögütcü, „lernen sie ganz viel über Sozialkompetenz.“
Früher wusste ich nicht so richtig, wie ich auf Krisenmomente reagieren sollte.
Fidaa Al-Hazan, Erzieherin bei „Navitas“
Fidaa Al-Hazan setzt dieses Wissen in ihrem beruflichen Alltag zielgerichtet ein. Die Syrerin, 2019 nach Deutschland gekommen, arbeitet in Hohenschönhausen mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. In Damaskus hatte sie kurze Zeit Englisch studiert, jetzt berät sie vor allem Jugendliche aus Syrien und Afghanistan in Krisensituationen. „Früher wusste ich nicht so richtig, wie ich auf Krisenmomente reagieren sollte“, sagt sie. „Jetzt kann ich viel besser damit umgehen.“ Und immer spüre sie „die Erleichterung der Jugendlichen, dass ich sie verstehe.“ Bei den Afghanen muss allerdings häufig der Google-Übersetzer helfen.
Fidaa Al-Hazan kam 2019 nach Deutschland. In Damaskus hatte sie begonnen Englisch zu studieren, nun berät sie vor allem Jugendliche aus Syrien und Afghanistan.
© Frank Bachner
Fidaa Al-Hazan bringt ihren Schützlingen auch Eigenverantwortung bei. „Die denken oft noch, alles werde für sie erledigt. Also setze ich auch Grenzen.“
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2024 kamen zwar nur noch 1748 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Berlin, und derzeit erreichen täglich nur drei die Hauptstadt, aber das ändert nichts am großen Bedarf an qualifizierten Erziehern. 86 Millionen Euro gab Berlin 2024 für die Betreuung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge aus.
Giuli Kariquli kann ihre Arbeit jetzt noch besser machen, aber sie war auch vorher schon gut. „Das homosexuelle Mädchen, das ich betreut habe, hat sich stabilisiert“, sagt Kariquli. Sie lebe mittlerweile in einer eigenen Wohnung. „Wir haben heute noch Kontakt.“