Stand: 07.10.2025 06:00 Uhr
Sten Nadolnys neuer Roman „Herbstgeschichte“ erzählt von einer Männerfreundschaft und der Liebe zu einer schönen Frau – ein Vexierspiel unterschiedlicher Versionen einer Geschichte um Liebe und Selbstheilungskräfte.
Es sind mehrere ineinander verschachtelte Geschichten, und erzählt werden sie von einem erfundenen Autor namens Titus, der sich vorstellt:
Ich erzähle die Geschichte von Bruno und Michael und zwar ab deren gemeinsamer Reise im Jahr 1998, auf der sie eine junge Frau namens Marietta kennenlernten.
Leseprobe
Wie eine junge Frau das Leben zweier Männer verändert
Es ist ein gemächlicher Erzählrhythmus mit Abschweifungen und Wiederholungen und nach rechts und links mäandrierenden Schlenkern. Zwei Schulfreunde, beide inzwischen 54 Jahre alt, hatten sich aus den Augen verloren. Nach einem Ehemaligentreffen sitzen sie gemeinsam im Zug auf einer Reise nach Zürich. Eine schutzbedürftig wirkende junge Frau setzt sich in ihr Abteil, und beide verlieben sich Hals über Kopf in sie.
Die Sonne sank, die Schatten wurden länger und die Konturen schärfer. Aus dem gescheiten Bier wurden zwei Gläser Riesling, und sie sprachen gar nicht über sich, sondern über die junge Frau. Michael sagte, sie sei der Typ wie Holly Golightley, die bei Tiffany frühstückt, vor allem aber bildschön.
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So schön, dass beide Männer versuchen, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Bruno, der Theatermacher und Michael, der Schriftsteller. Man reist gemeinsam weiter nach Venedig. Danach verlieren sie sich aus den Augen, viele andere Dinge ereignen sich.
Pflege und Fürsorge werden zur Herausforderung
Erst einige Jahre später begegnen sich dann Marietta und Michael unter ganz anderen Voraussetzungen bei einer seiner Lesungen wieder. Marietta ist inzwischen pflegedürftig, sitzt im Rollstuhl und Michael beginnt sich um sie zu kümmern. Er übernimmt eine Art Mutterrolle für Marietta und regelt den Alltag für sie. Das bedeutet für die nächsten Jahre: Kampf mit bürokratischen Hürden um Pflegegeld, Sozialhilfe, Mietzuschüsse und mehr. Er wird nicht müde, sich über die Mühsal der Auseinandersetzungen mit den Behörden zu wundern. Als tragisch für Marietta entpuppt sich, dass sie nur dann Anspruch auf Unterstützung hat, wenn sie weiter schwer krank bleibt. Und dann taucht eines Tages Bruno auf, der bei ihrer ersten Begegnung der Dritte im Bunde war. Er entführt Marietta, die sich plötzlich zu erholen scheint.
Sten Nadolnys stilvolles Vexierspiel
Die verwinkelt, verzwickt erzählte Geschichte mit Drehungen und Blindfährten inszeniert Sten Nadolny in einer offenbar bewusst altmodischen Sprache, der man eine Sehnsucht des Autors nach den Sprachnuancen des 20. Jahrhunderts anzumerken meint. Immer wieder schaltet sich als nachdenkliche, distanzierend Ebene der erfundene Autor ein.
In einer charmanten Anspielung bekennt dieser dritte Held der Geschichte, der Schriftsteller Titus, eines seiner Lieblingsbücher sei ein Roman, in dem es um die „Trekoner“ und Lord Nelson ginge. Offenbar eine Anspielung auf den Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“? Nadolny inszeniert ein Vexierspiel unterschiedlicher Versionen einer Geschichte um Liebe und Selbstheilungskräfte.
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