35 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Unterschiede zwischen Ost und West in Deutschland noch immer immens, wie eine Studie der Freien Universität Berlin und des Tagesspiegel gezeigt hat. Nur in einem Punkt sind sich fast alle Bundesländer einig: in ihrer Ablehnung der Berlinerinnen und Berliner.
„Nehmen Sie Kontroversen und Meinungsunterschiede zwischen den Menschen aus den verschiedenen Regionen oder Bundesländern wahr? Wenn ja, wie sehen diese Unterschiede Ihrer Meinung nach aus?“ Das hatten Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler der Freien Universität in ihrer Studie gefragt. Die Ergebnisse waren mehr als eindeutig: Ganz Deutschland mag die Hauptstadt nicht.
Wer kann hier wen (nicht) leiden? Das große Sympathie-Ranking der Bundesländer
Folgt man den Zahlen der Erhebung, ist Berlin in ganz Deutschland unbeliebt, außer in Berlin selbst. Von elf möglichen Punkten kommt Berlin bei den Menschen aus Schleswig-Holstein auf gerade mal 6,02 Punkte, bei den Menschen aus NRW auf 6,13 Punkte und bei denen aus Bayern auf 6,21 Punkte. Nur die Berlinerinnen und Berliner geben ihrer eigenen Stadt 8,5 von elf möglichen Punkten.
Zum Vergleich: Hamburg – ebenfalls ein Stadtstaat und eine Großstadt mit allen Vor- und Nachteilen – landet mit 201 Gesamtpunkten auf Platz 1. Berlin landete hier mit 60 Punkten auf dem letzten Platz.
Was stört die Deutschen?
Schaut man genauer in die Erhebung, sind es vor allem drei größere Themen, die die Deutschen an Berlin stören: die Stadt und ihr Ruf, zum Ersten. Zweitens die Berlinerinnen und Berliner selbst. Und drittens die herausgehobene Rolle als Hauptstadt.
In zahlreichen Antworten der Befragung zeichnet sich ein deutliches Bild: Berlin gilt als Sonderfall, als eigenständiges kleines Land, eine Art Labor, in dem sich Deutschland ausprobiert. Und sich manchmal auch verliert.
Links, liberal, ein eigenes Ding
Politisch gilt die Hauptstadt ohnehin als Ausnahme. Kein anderes Bundesland steht weiter links, keines wählt so liberal. Für manche ist das Ausdruck einer offenen, modernen Gesellschaft; andere sehen darin den Beweis, dass Berlin sich zu weit von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt hat. Berlin wirke, als würde die Stadt ihr ganz eigenes Ding machen, lautet sinngemäß eine Einschätzung. „Berlin fühlt sich an, als gehöre es kaum noch zu Deutschland“, lautet eine andere.
Die kulturelle Vielfalt, die in Berlin oft geschätzt wird, sehen andere mit Neid, aber auch Misstrauen. Während die einen in ihr Weltoffenheit sehen, empfinden andere sie als überdrehten Liberalismus, besonders bei Fragen von Identität und Geschlecht.
Über das Projekt
Die Forschungsumfrage, auf der diese Analyse basiert, wurde im September 2024 durchgeführt. Forscher am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin haben die Daten im Rahmen des Forschungsprojekts „Does Near Equal Dear? Analysing Citizen Preferences for Regional vs. Central Government“ erhoben und dem Tagesspiegel zur Verfügung gestellt. Beteiligte Forscherinnen und Forscher: Lena Masch, Christoph Nguyen, Johanna Schnabel und Antonios Souris.
„Wenn wir über Polarisierung sprechen, denken die meisten sofort an Parteien. Doch es gibt noch eine weitere Form der Polarisierung, nämlich zwischen Menschen aus verschiedenen Regionen: Ost gegen West, Bayern gegen den Rest, Stadt gegen Land“, sagen die Forscherinnen und Forscher zu ihrem Projekt.
Die repräsentative Online-Umfrage mit 1630 Teilnehmern zwischen 18 und 69 Jahren wurde vom James Madison Charitable Trust gefördert – einer britischen Stiftung, die sich der Erforschung föderaler Systeme widmet.
Zu multikulti, zu voll, zu kriminell
Hinzu kommt das Bild einer Metropole, die zu viel sei, wie es ein Teilnehmer der Studie sinngemäß formuliert: Zu multikulti, zu schmutzig, zu kriminell, zu voll von Verkehr, Berlin ist von allem zu viel! Gleichzeitig werde Berlin als Magnet gesehen. Alle ziehe es nach Berlin und genau das mache das Leben hier zunehmend kompliziert, beschreibt ein Berliner Teilnehmer der Studie den Widerspruch inhaltlich.
Auch die Berliner selbst tragen ihren Teil zum mäßigen Image bei. Sie gelten als direkt, laut, streitlustig, werden wahlweise als „großmäulig“ wahrgenommen – oder als „Hipster“ und als besonders woke. Die Berlinerinnen und Berliner, schreibt ein Teilnehmer, seien „deutlich moderner und weltoffener“ – was nicht für alle eine positive Zuschreibung ist.
In Berlin gibt es mehr Armut, und die Menschen wirken insgesamt weniger zufrieden, so könnte man den Eindruck eines Teilnehmers zusammenfassen.
Auch die politischen Berliner Debatten färben offenbar auf die Wahrnehmung der Stadt ab: Im Norden gehe es insgesamt ruhiger und bedächtiger zu, weniger laut, weniger aufgeregt als etwa in Berlin oder Bayern, wo mehr gestritten, diskutiert und Tempo gemacht werde, beschreibt ein Studienteilnehmer in etwa seinen Eindruck. Und schließlich bleibt da die alte Hauptstadtkränkung. Viele in anderen Bundesländern glauben, Berlin profitiere übermäßig davon, Regierungssitz und größte Großstadt des Landes zu sein, kulturell, finanziell, politisch.
Nur Rentner und Reiche sind Berlin-Fans
Auffällig ist dabei auch, dass Rentnerinnen und Rentner Berlin (Sympathiewert: 7,1) positiver sehen als etwa Schülerinnen, Schüler und Auszubildende (6,49).
Gleichzeitig steigt die Popularität Berlins mit dem Bildungsgrad: Menschen mit Hauptschulabschluss bewerten Berlin durchweg negativer als Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen.
Mehr zum Thema gesellschaftliche Spannungen auf Tagesspiegel Plus: Wer kann hier wen (nicht) leiden? Das große Sympathie-Ranking der Bundesländer Lebensverhältnisse, Löhne, Demokratie Sieben Grafiken zeigen, wie (un)einig Deutschland 35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Teuer, öde, Berlin-Mitte Der einstige In-Kiez erstarrt im Geld
Ähnlich verblüffend ist der Fakt, dass Berlin mit steigendem Einkommen beliebter wird: In der Gruppe der Menschen, die pro Monat im Schnitt über 5000 Euro brutto verdienen, ist Berlin demnach am beliebtesten. Was auf eine Art zumindest zu den seit Jahren rasant steigenden Mieten in Berlin passt.
Und Klaus Wowereits längst zur Phrase gewordene Behauptung, Berlin sei „arm, aber sexy“, hat sich geradezu ins Gegenteil verkehrt: Mittlerweile, könnte man behaupten, ist Berlin teuer. Aber unbeliebt.