Die Politikwissenschaftlerin Yvonne Krieg vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen

AUDIO: Studie: Immer mehr Jugendliche in Niedersachsen erleben Gewalt (3 Min)

Stand: 07.10.2025 19:37 Uhr

Immer mehr Jugendliche erfahren Gewalt. Zu diesem Ergebnis kommt das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KfN) in einer Studie. Mögliche Auslöser erläutert Projektleiterin Yvonne Krieg im Interview.

Rund 9.200 Neuntklässlerinnen und Neuntklässler sind im Rahmen des Niedersachsensurveys vom KfN zu ihren Gewalterfahrungen befragt worden. Eine zentrale Erkenntnis: Immer mehr von ihnen werden selbst zum Opfer. Rund 20 Prozent von ihnen gaben an, mindestens eine Gewalttat erlebt zu haben. Vor zehn Jahren waren es noch 15 Prozent.

Frau Krieg, was für Gewalterfahrungen machen Jugendliche?

Yvonne Krieg: Bei den allermeisten Gewalterfahrungen, die Jugendliche machen, handelt es sich um eine Körperverletzung durch eine Einzelperson. Auch von sexueller Belästigung wird häufig gesprochen. Schwerere Formen der Körperverletzung, Raub oder Erpressung kommen dagegen deutlich seltener vor.

Junge Frau verschränkt ihre Arme vorm Gesicht. An den Ellenbogen sind blaue Flecke.

Zu dem Ergebnis kommt das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen in einer aktuellen Erhebung.

Wie ist dieser Anstieg in den vergangenen Jahren zu erklären?

Krieg: Da gibt es unterschiedliche Vermutungen. Einerseits kann man die Pandemie nicht außen vor lassen, wenngleich sich die Anstiege teilweise auch schon vor der Pandemie finden lassen. Dennoch: Die Pandemie hat vielfache psychische Belastungen bei Jugendlichen ausgelöst. Möglich ist, dass es da zu Sozialisationsdefiziten kam – dass die Jugendlichen also vielleicht weniger die Fähigkeiten zur gewaltfreien Konfliktlösung erlernt haben. Auch sogenannte Nachholeffekte sind denkbar. Es ist ziemlich normal, dass Jugendliche mit ungefähr 15 Jahren ihre Grenzen testen. Das ist auch so der Höhepunkt an Kriminalität. Wenn jetzt während der Pandemie die Schulen geschlossen waren und Jugendliche sich an vielen Orten nicht mehr treffen konnten, holen sie diese Erfahrungen nun möglicherweise nach.

Und welche Faktoren gibt es unabhängig von der Pandemie?

Krieg: Wir gehen auch davon aus, dass die Sensibilität gegenüber Gewalttaten gestiegen ist – vor allem im Bereich der sexuellen Delikte. Da hat sicherlich auch die MeToo-Debatte zu beigetragen. Gewalt ist außerdem nicht mehr so normalisiert. Jugendliche erkennen deshalb heutzutage eher an, dass das, was sie erlebt haben, eine Gewalttat ist.

Unterscheiden sich die Gewalterfahrungen von Jungen und Mädchen?

Krieg: Ja, auf jeden Fall. Schaut man sich die Opfer an, sieht man: Mädchen werden häufiger Opfer von sexuellen Delikten, Jungen hingegen von schweren Formen der Körperverletzung. Bei der Körperverletzung durch eine Einzelperson, also der einfachen Körperverletzung, gibt es jedoch keine Geschlechterunterschiede. Wenn man sich jetzt nur die Täterinnen und Täter anguckt, wird deutlich, dass Jungen bei allen Delikten häufiger zu Gewalttätern werden als Mädchen.

Der Boxtrainer Sascha Zertz.

Dafür stieg die Zahl der Gewaltdelikte. Boxtrainer Sascha Zertz aus Hannover setzt sich für Präventionsarbeit ein.

Es zeigt sich, dass die Täter und Täterinnen immer jünger werden. Woran liegt das?

Krieg: Das ist eine Frage, die wir uns auch stellen. Wir sehen auf jeden Fall, dass die Jugendlichen 2024 circa 11,6 Jahre alt waren bei ihrer ersten Tat. 2013 lag die Zahl noch ein bisschen über zwölf Jahren. Woran das liegt, können wir aktuell nicht sagen.

Was muss denn aus Ihrer Sicht geschehen, damit weniger Jugendliche Opfer von Gewalt werden?

Krieg: Prävention sollte nicht weiter herunter- sondern hochgefahren werden – und dabei an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Prävention sowohl in Schulen, zum Beispiel in Form von Anti-Aggressions- oder auch Sozialkompetenztrainings, halten wir für ratsam. Denn: Wir wissen, dass etwa Empathie mit weniger Gewaltaffinität zusammenhängt. Man sollte aber auch im Elternhaus – gerade bei vorbelasteten Familien – unterstützen. Und natürlich geht es auch darum, gesamtgesellschaftlich die Lebensbedingungen zu verbessern etwa durch die Bekämpfung von Armut und sozialen Ungleichheiten.

Das Interview führte Julia Vogt

Gestellte Szene: Jugendliche treten in einer Fussgaengerunterfuehrung auf einen am Boden liegenden Jungen ein.

Auch werden jugendliche Täter im Schnitt jünger. Das hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen herausgefunden.

Eine Hand hält Handschellen vor einen Streifenwagen der Polizei.

Das geht aus dem Jahresbericht des LKA für 2024 hervor. Die Zahl der jugendlichen Opfer erreicht einen Höchststand.

Blaulicht eines Polizeiwagens

Die 16 und 17 Jahre alten Jugendlichen sollen einzeln und gemeinsam vorgegangen sein – zuletzt im Juli dieses Jahres.