Eigentlich wollte die Regisseurin und Schauspielerin Cherien Dabis ihren neuen Film in Palästina drehen, doch aufgrund der Hamas-Massaker des 7. Oktober 2023 und der anschließenden israelischen Invasion in Gaza musste das Team aus dem Land fliehen. Aber jetzt ist es umso zentraler, dass Dabis‘ generationenumspannendes Drama „Im Schatten des Orangenbaums“ ein Narrativ aus palästinensischer Sicht bietet. Das Drehbuch wurde inhaltlich zwar nicht nachträglich verändert, aber bei der Inszenierung wurde mehr Raum für Stille und Schmerz zugelassen, ohne deshalb gleich ins Rührselige abzugleiten. Trotz einer klar pro-palästinensischen Haltung ist Dabis‘ epische Familiensaga ein filmisches Friedensangebot und zeigt: Menschlichkeit ist eine Form des Widerstands, die einem niemand nehmen kann.

Inzwischen sind deshalb auch die Hollywoodstars Mark Ruffalo („Avengers 5“) und Javier Bardem („F1 – Der Film“) als ausführende Produzenten mit an Bord. Vor allem Bardem lobte das 145-minütige Werk in Interviews bereits auf ganzer Linie: „Cheriens wunderschöner, intelligenter und zutiefst bewegender Film zeigt auf eindrucksvolle Weise die wahre Geschichte Palästinas, die noch nie zuvor auf so künstlerische und authentische Weise erzählt wurde.“ Eine logische Wahl also, dass der beim Sundance Festival uraufgeführte Film Jordanien bei der anstehenden Oscar-Saison in der Kategorie „Bester internationaler Film“ vertreten wird.

Bis 1948 durchlebt Salim noch eine glückliche Kindheit im elterliche Orangenhain in Jaffa.

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Bis 1948 durchlebt Salim noch eine glückliche Kindheit im elterliche Orangenhain in Jaffa.

1988 wird der Teenager Noor (Muhammad Abed Elrahman), Sohn von Hanan (Regisseurin Cherien Dabis selbst) und Salim (Saleh Bakri), bei einem Protest gegen die israelische Besatzung im Westjordanland schwer verletzt. 34 Jahre später schaut Hanan in einem Café einen jungen jüdischen Mann an und beginnt die Geschichte ihrer Familie zu erzählen: „Niemand hätte je geglaubt, dass es so kommen würde. Ich werde ihnen erzählen, wie es angefangen hat.“ Los geht es 1948 mit der Gründung des Staates Israel. Auf einem Orangenhain in Jaffa befindet sich das Haus von Salims Vater Sharif (Adam Bakri), der seinen Sohn hochhebt, um ihn eine Orange vom Baum pflücken zu lassen. Doch das Glück währt nicht lange: Das Dorf wird bombardiert und Sharifs Frau drängt darauf, mit den Kindern einen sichereren Ort aufzusuchen, während Sharif selbst zurückbleibt, um das Haus zu bewachen.

Drei Jahrzehnte später herrscht Uneinigkeit zwischen den Generationen: Während Großvater Sharif den alten Zeiten nachtrauert und seinen Enkelkindern sein Palästina nahebringen möchte, versucht Vater Salim, einen anderen Zugang zu finden. Einer der stärksten und zugleich traurigsten Momente spielt sich ab, als Salim mit seinem kleinen Sohn Noor auf dem Heimweg von Soldaten gedemütigt wird. Sie bedrohen den Vater mit Waffen, damit er vor seinem Sohn laut herausschreit, dass er ein Esel sei. Danach muss er auch noch Noors Mutter aufs schlimmste beleidigen. Die beiden werden zwar verschont, aber der gedemütigte Salim hat fortan die Achtung seines Sohnes verloren…

Was der Krieg auch nach den Bomben noch alles anrichtet

Cherien Dabis, eine in den USA geborene Tochter palästinischer Eltern, setzt sich für die Sichtbarkeit arabisch-amerikanischer Geschichten ein. Ihre Filme sind seit jeher autobiografisch geprägt, das ist auch bei „Im Schatten des Orangenbaums“ nicht anders: Als sie 2007 auf dem Weg nach Ramallah erfährt, warum sie im Stau steht, wächst in der Regisseurin der Wunsch, einen Film darüber zu drehen. Durch die von Rauschwaden durchzogene Luft sieht sie junge Männer, die aus Protest Steine werfen. Eine Reihe israelischer Soldaten richtet Gewehre auf sie – und sie fragt sich: Wer sind diese Männer und mit welchen Gedanken sind sie zu dieser Demonstration gekommen?

Also entschloss sich die Filmemacherin, weit auszuholen und eine Familie inmitten von Jahrzehnten politischer Unruhen zu porträtieren. Dabei lässt sich Dabis vor allem von eigenen Erlebnissen inspirieren. Kriegsbilder interessieren sie nicht, man wird also keine Bomben oder brennenden Häuser sehen. Stattdessen gibt Dabis persönliche Einblicke in ein vom Krieg gezeichnetes, fragiles Familienleben.

„Im Schatten des Orangenbaumes“ erzählt über mehr als sieben Jahrzehnte hinweg die Geschichte von drei Generationen einer Familie, die maßgeblich durch die anhaltende Besetzung des Westjordanlands geprägt wird.

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„Im Schatten des Orangenbaumes“ erzählt über mehr als sieben Jahrzehnte hinweg die Geschichte von drei Generationen einer Familie, die maßgeblich durch die anhaltende Besetzung des Westjordanlands geprägt wird.

Die Stärke von „Im Schatten des Orangenbaums“ liegt darin, dass Dabis ihren Plot aus einem ganz persönlichen Schmerz heraus entwickelt hat. Auch die beschriebene Szene mit der Demütigung durch die Soldaten hat sie in abgewandelter Form selbst erlebt: Mit acht Jahren reiste sie mit ihrer Familie zum ersten Mal nach Palästina, wo sie zwölf Stunden an der Grenze festgehalten wurden. All ihre Sachen, selbst die von ihren ein und drei Jahre alten Schwestern, wurden durchsucht, alle wurden zudem einer Leibesvisitation unterzogen. Ihr Vater wollte sie verteidigen und wurde von einem Soldaten angeschrien. Für ihn eine gefährliche Situation – und für die achtjährige Tochter ein Bild, das sie ihr Leben lang nicht vergessen hat.

Aufgrund der erschwerten Bedingungen wurde wie gesagt nicht in Palästina, sondern auf Zypern und in Griechenland gedreht. Auch Dabis‘ Vater war im Exil – und es sind all diese biografischen Überschneidungen, die den Film spürbar geprägt haben. Trotzdem beugt sich der Film nicht der Wut und Gewalt, sondern kämpft für die Liebe. In einem Interview spricht sich Dabis für Offenheit und Neugierde aus, damit Konflikte gelöst werden können: „Wir müssen uns fragen, ob wir neugierig sind, zu erfahren und zu verstehen, was der andere erlitten hat. Das ist eine Aufgabe, der wir uns alle stellen sollten“, so die Regisseurin. „Denn wenn wir uns nicht auf die gemeinsame Menschlichkeit aller Menschen konzentrieren – und nicht zulassen, dass die Mächtigen unsere Unterschiede zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen –, dann werden wir niemals Frieden haben.“

Diese Intention spürt man auch in „Im Schatten des Orangenbaums“.

Fazit: „Im Schatten des Orangenbaums“ ist ein gewaltiges Epos über den Verlust von Heimat und menschliche Stärke – und damit ein herausragender Kandidat für die anstehende Oscar-Saison!

Wir haben „Im Schatten des Orangenbaums“ beim Filmfest Hamburg 2025 gesehen.