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Die Geschichte sei so außergewöhnlich, dass sie nie gewagt hätte, sich das auszudenken, sagt Melissa Müller über ihr Buch »Mit dir steht die Welt nicht still«. © pv
Nanette hat das KZ überlebt, John ist in London auf sich allein gestellt. Aus einer zufälligen Begegnung erwächst eine Liebesgeschichte in Briefen. Autorin Melissa Müller hat diesen Briefwechsel in ihrem neuen Buch »Mit dir steht die Welt nicht still« erstmals zugänglich gemacht. Daraus wird sie in Friedberg lesen. Historisches verbindet sich mit einer berührenden Geschichte über Nähe, Verlust und die Kraft der Liebe.
Ihr Buch »Mit dir steht die Welt nicht still« erzählt die Geschichte von Nanette Blitz, einer Jugendfreundin Anne Franks. Wie sind Sie auf diese Geschichte gestoßen?
Das war im Zuge der Recherche zu meiner Biografie »Das Mädchen Anne Frank«. Mitte der 90er lebten noch zahlreiche Menschen, die entweder Anne Frank persönlich kannten oder zumindest ihr Umfeld – wie etwa Otto Frank, der ja als Einziger der Familie überlebt hatte. Neben meinen Archivrecherchen habe ich damals sehr viele Zeitzeugen interviewt. So wurde ich auch auf Nanette Blitz aufmerksam, die in São Paulo lebte. Sie hatte bis dahin noch nie öffentlich gesprochen und wollte das eigentlich auch nicht.
Wie stand sie zu Anne Frank?
Nanette war eine Schulkollegin von Anne Frank am Jüdischen Lyceum. In Annes Tagebuch wird sie kurz erwähnt. Die beiden standen sich nicht besonders nah – vermutlich, weil sie sich in ihrem Selbstbewusstsein ähnelten und unterschiedliche Interessen hatten.
Wie kam es dazu, dass Nanette sich Ihnen schließlich doch öffnete?
Zunächst näherten wir uns vorsichtig an, kommunizierten per Telefon und Fax. Sie teilte ihre Erinnerungen an Anne Frank mit mir. Aber als ich sie nach ihrer eigenen Familiengeschichte fragte, brach sie den Kontakt ab. Darüber wollte sie nicht sprechen.
Wie hat der Kontakt dann doch funktioniert?
Später, nachdem meine Anne-Frank-Biografie auch in den USA erschienen war, trafen wir uns bei einer Veranstaltung in Chicago. Dort trat Nanette tatsächlich zum ersten Mal öffentlich auf. Von da an bauten wir – sehr behutsam – eine Beziehung auf. Daraus wuchs im Lauf der Jahre eine Freundschaft. Dass ich einmal ein Buch über sie schreiben würde, ahnten wir beide da noch nicht.
Wann hat sich das geändert?
Als mir ihr Ehemann John von seinem Briefwechsel mit Nanette erzählte. Die beiden hatten sich Anfang der 50er in London kennengelernt, kurz bevor John nach Brasilien auswanderte. Zwei Jahre lang schrieben sie sich intensiv.
Durften Sie diese Briefe tatsächlich lesen?
Ja, das war ein großer Vertrauensbeweis. Ich verbrachte eine Woche bei Nanette und John in São Paulo. Dort sah ich die Originalbriefe zum ersten Mal – über 500 handgeschriebene Seiten! Mir war schnell klar: Diese Briefe sind ein besonderer Fund.
Weshalb?
Es sind hinreißend ehrliche Liebesbriefe, in denen zwei einsame Menschen Anfang 20 langsam zueinanderfinden. Von ihrer Familie überlebte nur Nanette das KZ. John war allein in London, nachdem beide Eltern an Krebs gestorben waren. Beide kämpften darum, ins Leben zurückzufinden. Mit jedem Brief wuchs das Vertrauen ineinander.
Wie sind Sie mit diesem umfangreichen Material umgegangen?
Mit viel Zeit und Vorsicht. Aus den 500 Seiten habe ich sozusagen ein Destillat geschaffen, das sowohl die Liebesgeschichte als auch die Lebensumstände der beiden transportiert. Nanette zwischen London und Amsterdam, John in Brasilien auf dem Weg in ein neues Leben.
Was macht die Briefe so besonders?
Obwohl John schon nach der ersten Begegnung überzeugt war: »Das ist die Frau meines Lebens«, lernen sie sich erst durch die Briefe richtig kennen. So wie die beiden langsam immer vertrauter werden, kommen wir Leser ihnen mit jedem Brief näher. Das macht die besondere Faszination aus.
Gab es sonst Kontakt?
Gleich nach seiner Abreise rief John Nanette vom Schiffstelefon an. Aber: Die Verbindung war sehr schlecht und extrem teuer. Das war für beide unbefriedigend. Danach hatten sie zwei Jahre lang nur schriftlichen Kontakt. Zwei Wochen, manchmal länger in Ungewissheit auf ein Lebenszeichen des anderen zu warten – das kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Nanette hatte ja Schreckliches erlebt. Wie prägt das ihre Geschichte?
Ganz entscheidend. Sie überlebte Bergen-Belsen nur knapp, wurde nach der Befreiung schwer krank – erst Typhus, dann Tuberkulose – und musste drei Jahre in einem Sanatorium verbringen, bevor sie zurück ins Leben konnte.
Wie konnte sie das alles auch mental überwinden?
Überwunden hat Nanette ihre traumatischen Erlebnisse nie. Aber an Johns Seite lernte sie, damit zu leben, dem Glück, das für sie bestimmt war, zu trauen und sich auf die Liebe einzulassen.
Was hat das Schreiben der besagten Briefe für die beiden bewirkt?
Diese Briefe dienten nicht nur dazu, die Distanz zu überbrücken. In ihrem reflektierenden Schreiben haben sie sich nicht nur dem anderen, sondern auch sich selbst geöffnet. Das scheint mir ein wesentliches Geheimnis ihrer glücklichen Beziehung: Als sie schließlich in die Ehe gingen, kannten sie und verstanden einander so gut, dass sie nicht versucht haben, den anderen zu ändern.
Wie muss man sich das heute vorstellen?
Sie hingen keiner Traumvorstellung nach, sondern waren mit der realen Person an ihrer Seite glücklich. Den Partner so anzunehmen, wie er ist – das ist doch die Voraussetzung für das Gelingen einer Beziehung.
Sprechen diese Briefe jüngere Leserinnen und Leser vielleicht mehr an als klassischer Geschichtsunterricht?
Der historische Kontext dieser Liebesgeschichte ist mir natürlich wichtig. Darüber hinaus enthält sie aber Botschaften, die hochaktuell sind und vor allem auch jüngere Menschen ansprechen. Es gibt eine große Sehnsucht – nach echten Beziehungen, nach Nähe, nach bedingungsloser Liebe, vielleicht auch nach Romantik.
Wie reagieren die Menschen auf Ihre Lesungen?
Sehr bewegt. Es kommen Paare jeden Alters, und erfreulicherweise auch viele jüngere. Manchmal nehmen Frauen ihre Männer mit, manchmal ist es umgekehrt. Und manchmal beobachte ich, wie diese Paare im Lauf der Lesung näher zusammenrücken, Händchen halten und sich in John und Nanette hineinfühlen.
Werden Sie für die Lesung in Friedberg besondere Kapitel auswählen?
Ich werde vorlesen, wie John und Nanette einander, sozusagen auf Raten und mit einigen amüsanten Hindernissen, kennenlernten. Ich werde aber auch einige besonders eindrückliche Briefpassagen vorlesen und dabei auf die Reaktionen des Publikums eingehen. Es sind so viele Stellen im Buch, in denen man sich selbst wiederfinden kann…
Was hat Sie bei der Recherche und beim Schreiben am meisten bewegt?
Besonders bewegt hat mich das Ringen dieser beiden jungen Menschen um Hoffnung. John ist sozusagen mein Held: Er setzte sich in den Kopf, Nanette glücklich zu machen, und das zog er durch, sein Leben lang. Als sie »Ja« zueinander sagten, stand für beide außer Frage, dass es »für immer« ist. Wenn es Nanette aufgrund ihrer schrecklichen Erlebnisse schlecht ging, trug seine Liebe sie beide weiter.
Zwei beeindruckende Leben in Briefen. Ist es deshalb so wichtig, diese für die Nachwelt zu erhalten?
Für mich ist dieses Buch das Vermächtnis einer Generation. Nanette lebt zwar noch, aber inzwischen kann sie nicht mehr sprechen. Es sind kaum noch Zeitzeuginnen am Leben, Margot Friedländer war eine der letzten. Wir stehen an einem Wendepunkt: Diese Zeit darf nicht vergessen werden.
Wie kann das Autorinnen und Autoren gelingen?
Wenn die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen selbst nicht mehr Auskunft geben können, müssen wir ihre Geschichten lebendig halten. Wir können von Einzelschicksalen erzählen, mit denen sich das Publikum identifiziert, über die es historische Zusammenhänge nachvollziehen kann und sich zugleich emotional angesprochen fühlt. Dabei sind Faktentreue und emotionale Genauigkeit gleichermaßen wichtig. Nichts an der Geschichte in meinem Buch ist erfunden. Vieles daran ist so außergewöhnlich, dass ich nie gewagt hätte, mir das auszudenken.
koe_Welt_300925_4c © Red