Seit Ende September ist Kupjansk gesperrt, man kommt weder in die Stadt hinein noch aus ihr heraus. Dort befinden ich inzwischen russische Soldaten, die das ukrainische Militär zu vertreiben versucht. Auch Helfer, die Menschen in Sicherheit bringen könnten, können die Stadt nicht mehr betreten. Die verängstigten Einwohner fliehen auf eigene Faust.

Das hat auch die 75-jährige Walentyna getan, die am nördlichen Stadtrand von Kupjansk lebte. Mit Hilfe eines anderen Einwohners der Stadt erreichte sie das westlich gelegene Dorf Schewtschenkowe und wurde von Freiwilligen weiter nach Charkiw gebracht. Hier, in einem Transitzentrum für Vertriebene, trafen wir die Frau.

Walentyna sagt, sie habe sich zur Flucht entschlossen, nachdem zwei russische Soldaten in ihren Garten gekommen seien und nach ihren Kameraden in der Stadt gesucht hätten. Einer von ihnen habe sie mit einer Granate bedroht. „Man sah, dass er sehr betrunken war, dieser Russe. Dann fragte er, wo die ukrainischen Soldaten seien. Ich sagte: ‚Bei uns sind weder die Eurigen noch die Unsrigen. Hier leben nur Alte'“, erinnert sich die Frau.

Walentyna trägt einen warmen Pullover mit Kapuze über dem Kopf und sitzt an einem TischWalentyna beschloss, Kupjansk zu verlassen, als russische Soldaten in ihrem Hof standenBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Seit vier Monaten funktionierten in der Stadt weder Kommunikationsmittel, noch die Strom-, Wasser- und Gasversorgung, erzählt Walentyna. Auch alle Geschäfte seien geschlossen. „Der Beschuss ist schrecklich. Alles ist zerstört. Alles ist schwarz und niedergebrannt“, sagt sie, „und die Drohnen fliegen… Wenn sie jemanden entdecken, verharren sie erst an Ort und Stelle, bis sie sich dann auf jemanden herabstürzen. Viele Menschen sterben.“

Nun wird Walentyna von Freiwilligen in eine kostenlose Unterkunft gebracht, in der mehrere hundert Binnenvertriebene leben. Doch die Seniorin vermisst ihr Zuhause schon jetzt. „Leute wie wir halten am eigenen Haus, Hof und Garten fest. Die Ernte dieses Jahr war gut. Ich habe alles in den Keller gebracht und verschlossen, wie es sein muss. Aber wird es auch heil bleiben? Das ist die Frage“, sagt sie traurig.

Hilfe von Sozialarbeitern

Seit September ist die Zahl der Evakuierungsanträge aus dem Bezirk Kupjansk gestiegen – täglich gehen in dem „Koordinationszentrum für Humanitäre Hilfe“, das für die Abwicklung zuständig ist, mehr als hundert Anfragen ein, berichtet Einsatzleiter Bohdan Jachno. „Viele Menschen warten leider bis zur letzten Minute. Die Zahl der Anträge, die wir nicht bearbeiten können, steigt täglich. Und wenn Menschen versuchen, sich auf eigene Faust auf den Weg zu machen, können sie von Drohnen angegriffen werden.“

Nach Angaben des UNHCR gibt es derzeit etwa 3,8 Millionen Binnenvertriebene in der Ukraine, die ukrainischen Behörden sprechen von 4,6 Millionen. Das sind Ukrainer, die seit 2014 – nach der Annexion der Krim und dem Beginn der Kampfhandlungen im Osten des Landes – vor der russischen Aggression in sicherere Regionen der Ukraine geflüchtet sind. Derzeit handelt es sich zumeist um Rentner, die sich keine Mietwohnung leisten können und in Wohnheimen unterkommen. Damit sind ihre Probleme aber noch nicht gelöst, denn ohne Unterstützung fällt es ihnen schwer, ihren Alltag zu organisieren, Formalitäten zu erledigen oder ein Krankenhaus aufzusuchen.

Zwei männliche Binnenvertriebene sitzen bei der Anmeldung im Transitzentrum an einem Tisch, dessen Mitarbeiter Daten in Computer eingebenBinnenvertriebene melden sich beim Transitzentrum in CharkiwBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Der Staat kann einen Sozialarbeiter stellen, die Person muss jedoch nachweisen, dass sie alleinstehend ist und entsprechende Dokumente vorlegen. „Es besteht ein sehr großer Bedarf, den der Staat nicht abdecken kann. Der Staat befindet sich im Kriegszustand“, erläutert Elvira Seidowa-Bohoslowska, Projektleiterin bei der Organisation „Koordinationszentrum für Humanitäre Hilfe“ zur Begründung.

In mehreren Wohnheimen kümmern sich Sozialarbeiter um die Schwächsten. Das wird von der internationalen humanitären Organisation „Hilfe zur Selbsthilfe“ finanziert, „damit sich diese Menschen umsorgt und geliebt fühlen“, wie Seidowa-Bohoslowska betont. „Sozialarbeiter helfen ihnen, Traumata zu überwinden. Und das ist wichtig.“

Ukraine: Leben mit der Gefahr in den befreiten Gebieten

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Es ist düster im Charkiwer Wohnheim. Auf den Balkonen trocknet Wäsche und aus der Küche duftet es nach gekochtem Fleisch: Sozialarbeiterin Wiktorija kocht Borschtsch-Suppe für einen schwer verletzten Mann aus der Region Charkiw. Seit dem Morgen hatte sie viel zu tun: sie ging einkaufen und wusch Wäsche. Wiktorija liebt ihren Job. „Ich weiß, dass diese Menschen niemanden haben, der ihnen hilft“, sagt sie. Doch das Betreuungsprojekt kann nicht das gesamte Wohnheim abdecken. Zwei Sozialarbeiterinnen kümmern sich nur um zehn alte Frauen.

„Straße des Lebens“ in Kupjansk

Wenn Wiktorija frei hat, hilft sie gelegentlich anderen Bewohnern des Wohnheims. Sie besucht auch den 88-jährigen Mykola, um sich Geschichten aus seinem Leben anzuhören. Der Mann sieht und hört schlecht. Und er genießt ihre Aufmerksamkeit.

Mykola aus Welyka Schapkiwka sitzt auf einem Bett in einem Schlafsaal eines WohnheimsMykola aus Welyka Schapkiwka ist in einem Wohnheim untergekommenBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Mykola lebte im Dorf Welyka Schapkiwka nördlich von Kupjansk. Er ging immer zu Fuß in die Stadt, um seinen 65-jährigen Sohn zu besuchen. „Plötzlich verfolgte mich eine Drohne. Ich breitete die Arme aus und sagte: „Schieß doch los!“ Doch sie kreiste, zerstörte ein Haus und einen Bauernhof. Ich blieb verschont“, erinnert er sich.

Im August wurde er in Tschuhujiw in ein Krankenhaus eingeliefert, da es in Kupjansk keines mehr gab. Nach seiner Entlassung war es zu gefährlich, ihn wieder nach Hause zu bringen. Freiwillige brachten Mykola nach Charkiw in ein Wohnheim. „Sie haben mir erst nicht die Wahrheit gesagt. Nein, ich bin ihnen nicht böse, sie wollten nur das Beste“, sagt er. Aber Mykola hielt es nicht aus und fuhr vor zwei Wochen mit dem Bus in den Bezirk Kupjansk und ging zu Fuß in sein Dorf, um Kleidung zu holen. „Ich packte die Tasche voll – zwei Jacken, Hemden, Hosen. So viel ich konnte. Und einen Rucksack“, erzählt er. Unterwegs verhedderte er sich in einem Stacheldraht und verletzte sich.

Nun lebt Mykola allein in einem Zimmer und hält das zweite Bett für seinen Sohn frei, der noch in Kupjansk ist. Seit einem Monat hat er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt und möchte deshalb unbedingt wieder nach Kupjansk laufen. „Jetzt stehen da sechs Meter hohe Pfosten und Anti-Drohnen-Netze sind über die Straße gespannt. Man nennt sie ‚Straße des Lebens‘. Dort muss man entlang, es gibt keinen anderen Weg“, sagt Mykola. Doch Wiktorija verbietet es ihm. „Ich will dorthin. Und würde ich getötet, dann soll es so sein“, sagt Mykola und kämpft mit Tränen.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk