Russlands Sturm auf Kiew wurde zum Debakel. Putins Truppen galten als korrupt, kaputt, als berüchtigter Fleischwolf. Doch die Russen haben aus ihren Fehlern gelernt. Und sind gefährlich.

Russland hat aus den Fehlern des Kriegsanfangs gelernt, sein Militär in vielen Teilen umgekrempelt und ist deshalb zu einem sehr ernst zu nehmenden Gegner geworden. Das schreibt Dara Massicot vom US-amerikanischen Thinktank „Carnegie Endowment for International Peace“. 

ANZEIGEDie drei Erzählungen über Russland im Kriegsverlauf

Dafür stellt Massicot in einem Beitrag für das US-Magazin „Foreign Affairs“ zunächst die drei Erzählungen über Russland im Verlaufe des Krieges dar. 

1) Als Wladimir Putins Soldaten die Ukraine angriffen, waren sich die meisten Experten einig: Russland ist zu stark und wird den Nachbarn überrollen. Doch die Ukraine, die seit 2014 ihr Militär stark modernisiert hatte, verteidigte sich erfolgreich und der von Putin anvisierte dreitägige Marsch bis Kiew wurde zur Blamage.

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2) Beobachter schlossen daraus, Russlands Militär sei verrottet. Womöglich brauche es nur einen Gegenangriff und alles breche zusammen. Doch auch das erwies sich als falsch. Die ukrainische Gegenoffensive aus dem Sommer 2023 vertrieb den Feind nicht aus dem Land.

3) Nun ist die Erzählung, dass die Russen zwar kleine Gebiete gewinnen, aber keinen großen Durchbruch schaffen. Das liege nicht vordergründig an den Russen, sondern daran, dass die Ukraine nur nicht genug Unterstützung erhalte, um den Krieg endlich zu ihren Gunsten zu entscheiden.

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Ukraine-Krieg - Kiew Der von Putin anvisierte dreitägige Marsch bis Kiew wurde zur Blamage. —/ukrin/dpa Aus einer verrotteten Armee wurde ein moderner Verbund mit wenigen Schwachstellen

Laut Massicot ignorieren die Punkte 2) und 3) vor allem eines: Die Fähigkeit der russischen Armee, sich weiterzuentwickeln und neuen Gegebenheiten strategisch anzupassen. Denn auch wenn Putins Militär 2022 nicht modern genug war, um die Ukraine zu besiegen. Massicot ist überzeugt davon, dass die Russen nun eine moderne Armee haben, die nur noch wenige Schwachstellen hat.

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Was die Russen gelernt haben

Russland habe bereits im ersten Kriegsjahr damit begonnen, systematisch den Kriegsverlauf zu studieren und Lehren daraus zu ziehen. Schon im Frühjahr 2023 hätte der Kreml still und heimlich ein komplexes System aufgebaut, in dem Rüstungsfirmen, Ausbildungszentren und Kampfeinheiten voneinander lernen.

Das Ergebnis: Russland hat neue Taktiken auf dem Schlachtfeld kreiert, sein Trainingsprogramm neu aufgesetzt, Kampf-Handbücher umgeschrieben und bessere Waffen entwickelt. Moskau hat ein neues Drohnenprogramm gestartet, das eine Schwäche in eine Stärke verwandelt hat. Sie bauen bessere Raketen und Panzer. Sie geben jungen Kommandanten mehr Handlungsspielraum.

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Massicot schreibt: „Das russische Militär ist fähig, sich während dieses Krieges weiterzuentwickeln und sich gleichzeitig auf zukünftige, hochtechnologische Konflikte vorzubereiten.“

ANZEIGEWas die Russen jetzt anders machen

1) Lernprozesse

Rasch nach Beginn des Angriffskrieges versuchten russische Soldaten ihre Erkenntnisse vom Schlachtfeld mit anderen zu teilen: über soziale Netzwerke. Das Problem: Solange solche Erkenntnisse nicht in den größeren Militärapparat einfließen, verpuffen sie und kommen nie bei jenen an, die sie bräuchten.

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Als Russland erkannte, dass der Krieg langwierig sein würde, begann das Militär damit, das Vorgehen zu systematisieren. So schickte Moskau bereits 2022 Stabsoffiziere und Militärexperten an die Front, damit diese den Krieg beobachten und dokumentieren konnten.

In einem zweiten Schritt wurden Kriegsverläufe und Protokolle von Kommandanten studiert sowie Interviews mit Kämpfern geführt. Daraus ergaben sich Berichte, die mit dem Kriegshauptquartier und dem Generalstab geteilt wurden. Aber auch die Einheiten selbst, die Militärakademien, die Rüstungsunternehmen und Militärforscher bekamen diese Berichte.

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Die große Mobilisierung im September 2022 und die massive Erhöhung des Militärbudgets ermöglichten es den Russen, alles umzukrempeln: Die Kommandostruktur, die Taktik, die Logistik, das Kriegsgerät und die elektronische Kriegsführung. Dadurch gelang es, die Front im Jahr 2023 zu stabilisieren.

Doch die Russen trieben es noch weiter: Massicot stellt dar, dass mittlerweile 20 Kommissionen in Moskau daran arbeiten, die Berichte von der Front und von Militärforschern auszuwerten und Empfehlung auszusprechen. Immer wieder kommen Vertreter aus allen Bereichen zusammen, um die neusten Entwicklungen zu besprechen: zum Drohnenkrieg, zur Artillerie. Massicot schreibt: In drei Jahren hat Russland mehr als 450 Änderungen an den Kriegs-Handbüchern vorgenommen. Am Ende des Krieges könnten diese komplett neu geschrieben sein.

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Ein russischer Soldat beim Abschuss von Raketen Ein russischer Soldat beim Abschuss von Raketen Imago

Zu Beginn des Krieges konnten sich die Ukrainer nicht nur aufgrund eigenes Stärke gegen viele russische Angriffe wehren. Hinzu kam eine eklatante Schwäche der russischen Ausrüstung. Waffen waren veraltet. Panzer nicht zu gebrauchen. Die Ausrüstung zur elektronischen Kriegsführung fiel ständig aus.

Im ersten Jahr gelang es den Rüstungsindustrie kaum, diese Missstände zu beseitigen. Zu langsam, zu veraltet, zu realitätsfern waren die Prozesse. Doch Putin schmiss die heimische Gegenoffensive an. Der Kreml pumpte massiv Geld in die Aufrüstung der Ausrüstung. Das Verteidigungsministerium vermittelte zwischen den Frontsoldaten und den Rüstungsfirmen und die Unternehmen selbst schickten Leute an die Front, um den Krieg besser zu verstehen und Kriegsgerät vor Ort zu reparieren.

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Alles wurde auf den Prüfstand gestellt, private Hochschulen eingeschaltet, neue Testzentren errichtet. Start-ups wurden gefördert und der verkrusteten Rüstungsindustrie an die Seite gestellt.

Das Ergebnis: Die Russen haben bessere, auf den Krieg in der Ukraine zugeschnittene Waffen und wissen diese besser einzusetzen. Russlands Gleitbomben sind tödlicher, iranische Shahed-Drohnen haben sie selbst modifiziert, um schlagkräftiger zu werden.

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Und ihre Abwehr ist besser geworden. Wo zu Kriegsbeginn die Ukrainer noch mit Leichtigkeit russische Kommandozentralen angriffen und zerstörten, sind solche Attacken nun viel schwieriger.

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Es klang schon an; die Russen haben auch ihre Ausbildung verändert. Nach der großen Mobilisierung im September 2022 wurden Hunderttausende ohne Training oder nur mit kurzer, unnützer Ausbildung an die Front geschickt. Sie füllten dezimierte Einheiten wieder auf, ohne eine wirkliche Hilfe zu sein. Das Ergebnis war der berühmte Fleischwolf: Viele neue Rekruten starben schnell. Viele gebiete gingen verloren.

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Als Reaktion verknüpften die Russen laut Massicot die Frontabschnitte mit den Akademien und Trainingszentren. Russland baute bessere Simulatoren und hat seine Soldaten besser darin geschult, in kleinen Gruppen großen Schaden anzurichten.

Die Russen nutzen nun Drohnen, um die Übungen der Soldaten zu überwachen und hinterher eine Videoanalyse zu machen. Zwei Monate zusätzliche Ausbildung sollen Rekruten speziell auf den Einsatz in der Ukraine vorbereiten. Und es gibt ein neues Rotationssystem, mit dem Truppen vom Schlachtfeld nach Hause geholt werden, um dort Neues zu lernen.

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Massicot konstatiert aber auch: Selbst wenn die Rekruten jetzt besser auf den Kampf in kleinen Gruppen im Drohnenkampfgebiet vorbereitet werden, die Ausbildung sei immer noch kurz und zu schlecht. Mancherorts würde zudem immer noch veraltetes Wissen gelehrt, das Tempo der Veränderung nicht mitgehalten.

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Eine Shahed-Drohne iranischer Bauart, die im Ukraine-Krieg zum Einsatz kommt. Eine Shahed-Drohne iranischer Bauart, die im Ukraine-Krieg zum Einsatz kommt. picture alliance / Middle East Images | Anonymous

Die russischen Kommandostrukturen galten als besonders korrumpiert. Vorgesetzte verkauften die Ausrüstung ihrer Soldaten und schickten geschönte Berichte in die Heimat, so war lange Zeit das Bild. Zudem hatte die russische Armee einen sehr hierarchischen Ansatz.

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Das alles gibt es noch. Doch Massicot sieht auch hier einen Wandel. So würden Ausbilder mittlerweile jungen Offizieren beibringen, selbst kleine Einheiten anzuführen. Diese Mini-Kommandeure würden in die Missionsplanungen einbezogen, sollten selbst Lösungen auf dem Schlachtfeld finden, fernab der Anweisungen von oben. Massicot schreibt diesbezüglich von einer „großen Verschiebung“ in der russischen Armee.

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Welche Schwachstellen die Russen noch haben

All diese Fortschritte sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das russische Militär immer noch vieles aufzuholen habe, so Massicot. In der Erkenntnisgewinnung sei man mittlerweile stark, in der Umsetzung aber noch schlecht.

So sei man beispielsweise Fortschritte bei der Behandlung von Verletzten gemacht. Und trotzdem steige die Zahl von HIV-Infektionen unter den Soldaten weiter, weil Feldkrankenhäuser dieselben Spritzen teilweise mehrfach verwenden und sich nicht an Hygienevorschriften halten.

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Außerdem gebe es mehrere Bereiche, in denen die Russen wenig dazulernen würden. 

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1) Disziplin und Professionalität: Massicot schreibt, dass es hier sehr große Unterschiede zwischen den Einheiten gibt. Einige Kommandeure seien hoch kompetent. Andere würden ihre Soldaten beschimpfen oder seien schlicht nicht anwesend. Noch immer seien auch blutige Konflikte in den eigenen Reihen zu beobachten.

2) Fehlende Koordinierung: Ein Problem, das schon zu Beginn des Krieges offensichtlich wurde. Benachbart kämpfende Einheiten kommunizieren oft nicht oder schlecht miteinander. Deshalb misslingen Manöver oder Ablösungen, Soldaten sterben. Die hohen Verluste sorgen zudem dafür, dass Einheiten immer wieder aufgefüllt werden müssen und schlecht funktionieren, was wiederum zu mehr Verlusten führt.

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Vor allem aus diesen beiden Gründen kann Russland noch immer die militärische Überlegenheit kaum in größere Gebietsgewinne ummünzen. Zwar haben Militärpsychologen längst Alarm geschlagen. Doch noch immer herrsche in der russischen Armee ein Klima, in dem der eiserne Gehorsam der Schlüssel zum Sieg ist. 

Was das für die Zukunft bedeutet

Für Massicot ist klar: „Wegen all dieser Veränderungen wird auf die Ukraine noch größere Zerstörung zukommen. Russische Drohnenangriffe werden noch schneller und zahlreicher kommen. Die Russen werden mit noch mehr Raketen durch das ukrainische Verteidigungsnetz hindurch dringen.“ Der Innovationsvorteil der Ukraine habe lange gehalten, doch nun erodiere er langsam, so Massicot. 

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Gleichzeitig schreibt die Militärexpertin: „Diese Veränderungen werden Russland möglicherweise keine dramatischen Durchbrüche bescheren. Sie bedeuten jedoch, dass Moskau weiterhin das Leben seiner Soldaten für langsame Fortschritte im Donbass opfern kann und gleichzeitig hoffen kann, dass die Nato des Konflikts überdrüssig wird.“

Der Ukraine-Krieg tobt vor allem auch in Saporischschja. Der Ukraine-Krieg tobt vor allem auch in Saporischschja. Danylo Antoniuk/AP/dpa Warum wir sehr besorgt sein sollten – und was der Westen tun sollte

Es ist immer noch nicht klar, ob Putins Kalkül von der schwindenden Unterstützung durch den Westen aufgehen wird. Aber was sich laut Massicot klar zeigt: „Das russische Militär wird aus dieser Invasion mit einer klaren Vision der zukünftigen Kriegsführung hervorgehen.“ Und die Russen würden diese Erfahrungen mit China, dem Iran und Nordkorea teilen.

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Russland habe nach vergangenen Kriegen (Afghanistan, Syrien) häufig Erkenntnisse nicht in die Zukunft übertragen. Nun könne das anders sein, so Massicot. Die Militärexpertin schreibt, dass die Verantwortlichen in Moskau schon jetzt bis Mitte der 2030er-Jahre planen. Drohnen, Roboter, KI – das alles spiele mittlerweile eine große Rolle in den Planungen der Russen. 

„In der Vision russischer Militärexperten wird es Schwärme autonomer Drohnen geben, die die Verteidigungsanlagen der Gegner überwältigen können. Schwer zu identifizierende Mikrodrohnen. Drohnen, die wie Tiere aussehen.“ All das spiele in den (teuren) russischen Überlegungen eine Rolle.

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Natürlich rechne man im Kreml damit, dass die USA und Europa Gegenmaßnahmen zu den neuen russischen Taktik suchen und finden werden. Doch das ist keine Selbstverständlichkeit: Mit dem Blick auf einen möglichen Konflikt mit der Nato schreibt Massicot deshalb den westlichen Staatenlenkern ins Hausaufgabenbuch: „Um nicht zurückzufallen, müssen Washington und die europäischen Hauptstädte aus dem Ukraine-Krieg lernen. Statt Russlands Fähigkeiten abzutun, müssen sie deren Erkenntnisse studieren – und dann ihre eigenen Veränderungen vornehmen.“