Im ukrainischen Cherson attackieren russische Truppen die verbliebenen Bewohner mit tödlichen Drohnen. In der Frontstadt reagiert man erfinderisch auf den Terror.

Die schwarzen Netze ziehen sich über die Kulyka Straße, eine Allee im Herzen der Stadt. Erstes Herbstlaub hat sich darin verfangen. Die Netze haben eine überlebenswichtige Aufgabe: Sie sollen vor Angriffen von Kamikaze-Drohnen schützen.

Blickt Galina nach oben, verschwinden die Schnüre im Gegenlicht der Sonne. Die Lehrerin macht sich Sorgen, wie es weitergeht in ihrem Cherson mit all den russischen Drohnen-Angriffen und dem Artillerie-Beschuss. Netze sind im Bereich des Bahnhofs gespannt. Oder sie ziehen sich kilometerlang längs der Schnellstraße, die Cherson mit Mykolajiw verbindet. „Straße des Todes“ wird sie mittlerweile genannt. Weil es dort zahlreiche Drohnen-Angriffe auf zivile Autos und ihre Insassen gab. Manchmal rasen Kranken-, Militär- und Polizeiwagen über die Fahrbahn mit Antennen auf dem Dach. Störsender, die die Radiowellen der Drohnensteuerung unterbrechen sollen.

Die Einwohnerzahl sank von 300 000 auf 50 000

Seitdem die Netze hängen, scheint sich die Situation verbessert zu haben. Dennoch werden die Fahrerinnen und Fahrer angehalten, nach Möglichkeit mindestens 140 Stundenkilometer zu fahren. Nur so sind die Fahrzeuge schneller als die russischen Drohnen. Auf den Verkehr muss niemand achten. Die Straße wirkt wie ausgestorben. In voller Fahrt huscht am Fahrbahnrand ein ausgebrannter Kleinwagen vorbei, schwarze Stellen auf dem Asphalt erinnern an die Hitze, als dort Autos in Flammen aufgingen. Und verbogene Leitplanken. Am Stadtrand steht noch ein abgebrannter Lkw-Anhänger als Folge eines Drohnen-Einschlags. Dann kommt der Checkpoint, ebenfalls mit Netzen geschützt.

„Wir haben für unsere Sicherheit einiges lernen müssen“, sagt Galina einige Kilometer entfernt bei ihrem Spaziergang durch die Innenstadt. Sie deutet auf die geparkten Autos. Allesamt unter Bäumen abgestellt, eines sogar unter einem Tarnnetz in einem kleinen Park. „Das Auto muss man immer so abstellen, dass es von einem russischen Drohnen-Piloten von oben nicht entdeckt werden kann“, erklärt die 61-Jährige.

Stellplätze unter Bäumen lassen sich in einer ausgebluteten Stadt leicht finden. Das Gros der Bewohner hat Cherson in Richtung sicherer Gebiete verlassen. Heute leben allenfalls noch 50 000 Menschen in einer Stadt, die vor der Invasion fast 300 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Zudem vermeiden viele wegen der Drohnengefahr jede unnötige Fahrt. Es gibt weitere Tipps zum Überleben: Nahe der Hauswand oder unter Bäumen laufen und so kein Ziel abgeben. Bei Alarm in den Keller oder zumindest in den Hausflur, wo keine Fenstersplitter nach einer Druckwelle wie scharfe Messer durch die Luft zischen. Gerade das Herbstlaub bringt jetzt eine neue Gefahr. Russische Quadrokopter-Drohnen haben in mehreren Stadtvierteln auch POM-Minen abgeworfen. Das sind Mini-Bomben in Schmetterlingsform, die auch in Streubomben oder eben als Landminen Verwendung finden. Vom Herbstlaub bedeckt, werden die olivgrünen Sprengsätze schnell zur unsichtbaren, tödlichen Gefahr.

Zum Arzt im gepanzertem Fahrzeug

Also gilt es auch für Galina die Augen offenzuhalten. Das Tosen der Artillerie ist für sie längst zum Alltagsgeräusch geworden. Galina blickt nicht einmal auf, wenn es in der Ferne kracht. Aber das Sirren einer Drohne, bedeutet sofort Unterschlupf suchen. Am besten in einem der Betonbunker, die sich oft an Bushaltestellen oder wichtigen Plätzen befinden. Hört man eine Drohne, zählen bereits Sekunden.

Anfang August griff eine russische Kampfdrohne einen Linienbus in einem Vorort an: Zwei Tote, 16 Verletzte. Immer wieder kommt es zu Vorfällen, in denen russische Drohnen einzelne Zivilisten oder zivile Autos jagen. „Je näher man dem Fluss Dnipro kommt, desto gefährlicher wird es, von einer Drohne angegriffen zu werden“, erklärt die Lehrerin. Galina könnte schon im Ruhestand sein. Sie entschloss sich, weiter als Lehrerin zu arbeiten. Ihr Unterricht findet online statt, alle Schulen der Stadt sind aus Sicherheitsgründen geschlossen.

Hinter Galina fährt gerade ein gepanzerter VW-Bus vorbei. Der ausrangierte himmelblaue Geldtransporter ist eine Spende aus Deutschland. Jenya und Mykola fahren damit ältere und verletzte Menschen zum Arzt oder ins Krankenhaus. Der Transporter ist mit einer kleinen Antennenanlage ausgestattet, die Drohnen ortet. „Das kann unser Leben retten“, macht Jenya klar. Er berichtet, wie eine Drohne ihn bei einem Transport verfolgte. „Das Ortungsgerät warnte. Ich habe mit dem Wagen noch rechtzeitig ein Ausweichmanöver gemacht, die Drohnen schlug daneben ein. Der Schaden war groß, aber niemand wurde verletzt“, erinnert er sich.

Angriff auf die Zivilbevölkerung von Cherson

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch informiert in einem umfassenden Bericht über den Einsatz russischer Drohnen gegen die Zivilbevölkerung von Cherson. Darin wird der gezielte Angriff auf die Gas-, Wasser- und Stromversorgung, auf Gesundheitseinrichtungen bis hin zu Rettungsteams belegt. „ Ihr Einsatz ist Teil von Russlands groß angelegtem Angriff auf die Zivilbevölkerung von Cherson. Hauptzweck ist die Verbreitung von Terror unter der Zivilbevölkerung“, heißt es in dem Bericht weiter.

Die meisten von Galinas Schülerinnen und Schüler sind deshalb nicht mehr in der Stadt. „Sie sind über die Ukraine, Europa und die ganze Welt verteilt“, erklärt die Lehrerin und zählt die Länder auf: Deutschland, Polen und Norwegen. Die Kinder, deren Familien nach Kanada und in die USA geflohen sind, sehen sich meist ihre Unterrichtsstunden als aufgezeichnete Clips an. „Es gibt da ja eine große Zeitdifferenz zur Ukraine.“ Galina unterrichtet Elf- bis Zwölfjährige, die nach dem Schulunterricht zum Beispiel in Deutschland am Nachmittag Galinas Stunden online verfolgen. „Das ist wichtig für ihre ukrainischen Zeugnisse. Sicherlich, Fächer wie Mathe können sie auch im Ausland lernen. Ukrainische Geschichte aber zum Beispiel nicht“, macht die 61-Jährige klar.

„Wir hatten keine Zeit mehr zu fliehen“

„Ich wurde noch in der Sowjetunion in Odesa zur Geschichtslehrerin ausgebildet. Es hat mich noch Jahre gekostet, bis ich verstanden habe, welche Halbwahrheiten uns eingetrichtert wurden“, erklärt sie. „Während der Besatzung hatte ich mir die Geschichtsbücher angeschaut, die die russischen Besatzer an den Schulen von Cherson eingeführt hatten. Sie waren noch vor der Invasion gedruckt. Darin wurde Geschichte verbogen, um Gebietsansprüche in der Ukraine zu stellen“, so die Pädagogin. Stalin, der Mann, der in der Ukraine Millionen Menschen während des Holodomors verhungern ließ, werde wieder zum großen Staatenführer umgedichtet. „Diese Lügen dürfen nicht mehr fruchten. Deswegen mache ich als Lehrerin weiter“, erklärt sie.

Cherson stand mehr als ein halbes Jahr unter russischer Besatzung. Der russische Geheimdienst errichtete mehrere Foltergefängnisse. Viele Gefangenen überlebten die Torturen nicht. „Wir hatten keine Zeit mehr zu fliehen. Mein Mann hatte einen schweren Schlaganfall und dann sind da noch vier Katzen“, erzählt Galina. Während der Besatzung vermied sie es möglichst, auf die Straße zu gehen. Einem Bekannten, er war pensionierter Grenzschützer, schlugen und misshandelten die russischen Soldaten in aller Regelmäßigkeit. „Obwohl er ihnen nichts verraten konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Er ist ein einfacher Pensionär.“ Die Lehrerin schüttelt den Kopf.

Der Weg zum Platz der Freiheit führt an einem Häuserblock aus der Stalinzeit vorbei. Eine Gleitbombe hat hier den Mittelteil des Hauses zum Einsturz gebracht. Ein halbes Badezimmer ist im zweiten Stock zu sehen. Das Waschbecken hängt noch an der Wand und gegenüber ein gerahmtes Familienbild, wo vermutlich das Wohnzimmer war.

„Freiheit hat leider einen hohen Preis“

Am Platz angekommen sagt Galina: „Hier haben wir unsere Befreiung im November 2022 gefeiert. Die Menschen standen zusammen, sangen, schwangen ukrainische Fahnen. Manche weinten vor Freude.“

An einer Längsseite grenzt ein mittlerweile zerbombtes Verwaltungsgebäude den Platz ein. Davor reckt sich ein Denkmal in den Herbsthimmel. Auf dem Granit sind die Porträts der Gefallenen der Stadt angebracht. Davor wehen kleine Fahnen im Wind. Jede von ihnen erzählt von einem verlorenen Menschenleben. „Freiheit hat leider einen hohen Preis“, sagt Galina zum Abschied.