Die Nachricht erschien am Mittwochabend um halb neun Uhr exklusiv auf der Homepage des Guardian, und wer sie zufällig in einem Pub in London las, hatte dort noch zweieinhalb Stunden, um sich über ihre weitreichenden Folgen Gedanken zu machen. Um elf Uhr werden die Gäste hier traditionell hinausgebeten bis -geworfen. Zwar gibt es die berüchtigte britische Sperrstunde seit 2003 nicht mehr, aber das Lizenzierungsverfahren, das stattdessen eingeführt wurde und theoretisch liberaler ist, erscheint vielen Wirten als so aufwendig, dass sie praktisch bei den alten Öffnungszeiten blieben. Das soll sich nun ändern. Die Zeitung berichtet, die Regierung möchte leichter längere Betriebszeiten ermöglichen, um der Gastronomie mehr Geschäft zu verschaffen, eine Art Bierokratie statt Bürokratie.
Bislang müssen lokale Verwaltungen, wenn sie Lizenzen für erweiterte Öffnungszeiten von Pubs vergeben, auf vier Aspekte achten: Sicherheit der Gäste, Verbrechensprävention, Kinderschutz und das Verhindern von öffentlichem Ärger, etwa durch Lärm. Eine von der Regierung eingesetzte Taskforce schlägt nun zumindest für England und Wales einen fünften Aspekt vor – ein Betrieb darf länger Bier ausschenken, wenn es dem Aufschwung dient. Denn wenn kleine Wirtschaften mehr Umsatz machen, tut das auch der großen Wirtschaft gut.
Die Sperrstunde wurde 1915 eingeführt, damit Fabrikarbeiter nüchtern zum Dienst kamen
Die Regierung sucht dringend nach Möglichkeiten, dem Land einen Schubs zu geben. Als die Labour-Partei vor 15 Monaten an die Macht kam und ein recht marodes Königreich übernahm, rief Premierminister Keir Starmer den ökonomischen Aufschwung als Ziel Nummer eins aus. Die Gastronomie indes hat trotz Starmers Schwärmereien – „Pubs und Bars sind das pulsierende Herz unserer Gemeinschaften“ – bislang noch nicht von den Maßnahmen profitiert. Im Gegenteil haben die Anhebungen des Mindestlohns und der Arbeitgeberabgaben gerade die Wirte enorm getroffen. Die klagen außerdem über die Belastungen durch die Alkoholsteuer und die Energiepreise, und ihre Not spiegelt sich dann auch in den Bestandszahlen wider: In den 1960ern gab es in Großbritannien noch 75 000 Pubs, vergangenes Jahr waren es weniger als 45 000. Im Durchschnitt macht jeden Tag ein Pub dicht.
Apropos dicht: Die Sperrstunde wurde 1915 eingeführt, weil die britische Politik im Ersten Weltkrieg sichergehen wollte, dass die Arbeiter in den Munitionsfabriken morgens nüchtern zum Dienst erscheinen. Lloyd George, damals Kriegsminister, sagte: „Wir bekämpfen drei Feinde, Deutschland, Österreich und den Alkohol; und soweit ich das beurteilen kann, ist der größte dieser drei Todfeinde der Alkohol.“ Dieser Feind ist heute keineswegs besiegt, 2023 wurden mehr als 10 000 Todesfälle gemeldet, die direkt auf das Trinken zurückzuführen sind, ein neuer Rekord.
Kritiker der neuen Freiheit prophezeien einen Anstieg nicht nur von Todesfällen, sondern auch von Straftaten und Störungen. Kritiker der bisherigen Einschränkungen wiederum argumentieren, dass längere Öffnungszeiten nicht unbedingt ungesund sein müssen – dann könnten sich die Leute wenigstens mehr Zeit lassen beim Trinken und müssten nicht alles so schnell wegkippen.