Als im Herbst 2022 die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee explodierten, schien der Schuldige klar: Russland, so die naheliegende Vermutung für deutsche Medien. Doch drei Jahre später verdichten sich die Zeichen in eine völlig entgegengesetzte Richtung – auf die Ukraine, genauer: auf ihren einstigen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj. Der Verdacht: Der in Kiew überaus populäre Kriegsheld habe die Sprengung der europäisch-russischen Energieader angeordnet. Darüber berichtete unter anderem die Zeitung Welt, die sich auf deutsche Ermittlerkreise beruft.

Die Vorwürfe sind gewaltig. Und sie treffen eine der schillerndsten Figuren der ukrainischen Politik: Saluschnyj, einst oberster ukrainischer Armeechef, ist inzwischen Botschafter in London. Nach Recherchen mehrerer Medien soll eine aus der Ukraine stammende Gruppe die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines 2022 ausgeführt haben. Demnach wird berichtet, die Sabotagegruppe habe auf Anweisung Saluschnyjs gehandelt.

Ukraine: Selenskyj steht innenpolitisch unter Druck

Bislang stützen sich die Anschuldigungen auf eine Mischung aus anonymen Quellen, Indizien und journalistischen Leaks. Bundespolizei und Bundeskriminalamt wollen Beweise gesammelt haben, dass eine kleine, erfahrene Sabotageeinheit mit einer gecharterten Segeljacht Sprengstoff nahe Bornholm deponierte. Doch schon hier beginnt das Rätsel: Die Welt berichtet von Sicherheitskreisen, die selbst die Jacht-These für „zu sauber“, zu perfekt konstruiert halten. Sie riecht, so sagen einige, nach einer Geschichte, die jemand bewusst in die Welt gesetzt hat, um Ermittlungen in eine bestimmte Richtung zu lenken.

In dieses Vakuum der Narrativhoheit drängen nun politische Interessen. Der Zeitpunkt der jüngsten Enthüllungen ist bemerkenswert: Saluschnyj gilt seit seiner Entlassung vor fast zwei Jahren als populärster Rivale von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Umfragen bescheinigen ihm höhere Vertrauenswerte als dem Amtsinhaber, und Berichte britischer und französischer Zeitungen deuten darauf hin, dass er offen über ein mögliches politisches Comeback nachdenkt.

Selenskyj wiederum versucht auch im 31. Monat seit Kriegsbeginn, den nationalen Schulterschluss zu wahren. Doch der Präsident steht nicht nur aufgrund des langsamen Vorrückens der russischen Armee unter großem Druck. Seine Beliebtheitswerte im Inland sinken stetig; die Korruptionsaffäre in der Ukraine vor wenigen Wochen sorgte für zusätzliche Kratzer in der ukrainischen Innenpolitik.

Braut sich da angesichts der für die Ukraine prekären innen- und außenpolitischen Lage ein gefährliches Gemisch zusammen? Die Ermittlungen, die sich in einer Schattenzone zwischen Justiz, Geheimdiensten und Politik bewegen, können rasch zum Instrument werden, um Rivalen und potenzielle Kontrahenten zu diskreditieren. Andererseits würde sich auch Selenskyj in Gefahr begeben, wenn er einen hoch angesehenen Ex-General ohne solide Beweise öffentlich zu Fall bringen will. Ein solcher Schritt würde nicht nur unter den Alliierten im Westen als autoritär gelesen, sondern könnte auch die fragile Einheitsfront in der kriegsgebeutelten ukrainischen Gesellschaft weiter beschädigen.

Nord Stream: Vorwürfe gegen Saluschnyj sind schwerwiegend

Hinzu kommt: Noch hat keine westliche Regierung, kein Geheimdienst und keine unabhängige Untersuchung die These bestätigt, Saluschnyj habe den Anschlag befohlen. Die bisherigen Hinweise belegen allenfalls, dass einzelne Ukrainer beteiligt gewesen sein sollen – höchstwahrscheinlich im staatlichen Auftrag, aber auch da blockiert die Regierung in Kiew jedwede Ermittlungen.

Der Fall Saluschnyj steht damit exemplarisch für den Zustand der ukrainischen Politik, die sich derzeit zwischen der Verteidigung des eigenen Landes und einer wachsenden politischen Nervosität wiederfindet. Dass ausgerechnet einer der erfolgreichsten Militärs des Landes nun zum Gegenstand internationaler Ermittlungen und innenpolitischer Gerüchte wird, zeigt, wie dünn die Linie zwischen Loyalität und rigorosem Machtkampf verläuft.

Erstmals rückte Saluschnyj im August 2024 ins Zentrum der Ermittlungen. Ein Bericht des Wall Street Journal zeichnete nach, dass eine sechsköpfige ukrainische Gruppe am 26. September 2022 die Nord-Stream-Pipelines sabotiert habe. Demnach sei der Plan zunächst von Präsident Selenskyj gebilligt, später jedoch gestoppt worden – Saluschnyj habe die Operation dennoch fortgeführt. Der ehemalige Oberbefehlshaber bestreitet jede Kenntnis. Bereits im November 2023 hatte die Washington Post den ukrainischen Oberst Roman Tscherwinskyj als logistischen Koordinator der Kommandogruppe „Andromeda“ identifiziert und auf eine Befehlskette verwiesen, die „letztlich“ zu Saluschnyj geführt habe. Auch diese Darstellung wies Kiew entschieden zurück.

Die Vorwürfe gegen Saluschnyj sind schwerwiegend und verdienen eine volle, unabhängige Aufklärung. Doch ebenso gilt: Es ist verfrüht, mit Sicherheit zu behaupten, der ehemalige ukrainische Oberbefehlshaber habe die Nord-Stream-Sabotage angeordnet – genauso verfrüht, Selenskyj zu unterstellen, er nutze die Ermittlungen, um seinen größten innenpolitischen Rivalen aus dem Spiel zu nehmen. Fest steht: Nicht nur die Bürger in Deutschland verlangen nach Antworten.

Tusk: Problem sei nicht die Sprengung, sondern der Bau der Pipeline

Die Nord-Stream-Ermittlungen sind nämlich längst keine rein deutsche oder ukrainische Angelegenheit mehr. Auch in Polen sorgt der Fall inzwischen für Spannungen. Drei Jahre nach dem Anschlag hat sich Regierungschef Donald Tusk klar gegen die Auslieferung eines in Polen inhaftierten Verdächtigen ausgesprochen. „Es liegt sicherlich nicht im Interesse Polens und des Gefühls von Anstand und Gerechtigkeit, diesen Bürger anzuklagen oder an einen anderen Staat auszuliefern“, sagte Tusk bei einem Besuch in Litauen. Auf der Plattform X legte er nach: Das eigentliche Problem sei nicht die Sprengung der Gasrohre gewesen, sondern der Bau der Pipeline.

Der festgenommene Ukrainer Wolodymyr Z., ein ausgebildeter Taucher, soll laut deutscher Bundesanwaltschaft an den Tauchgängen beteiligt gewesen sein, bei denen Sprengsätze nahe der dänischen Insel Bornholm platziert wurden. Ob er Teil einer staatlich beauftragten Einheit war oder im Auftrag Dritter handelte, ist weiterhin offen. Warschau prüft derzeit nach eigenen Angaben die deutschen Akten, bevor über eine mögliche Auslieferung entschieden wird.