Helles und Dunkles, Abgründiges und Leichtes, Kritik und Humor: Im Werk der Schweizer Künstlerin Klodin Erb liegt alles nahe beieinander. Vorhang auf für ein schillerndes Gesamtkunstwerk im Aargauer Kunsthaus.

Susanna Koeberle, Aarau07.10.2025, 05.30 UhrKlodin Erb: «Orlando #167», 2020. Öl auf Leinwand, 45 x 33 cm. Kunstsammlung Kanton ZürichKlodin Erb: «Orlando #167», 2020. Öl auf Leinwand, 45 x 33 cm. Kunstsammlung Kanton Zürich

© Klodin Erb / Foto: Stefan Altenburger Fotografie Zürich

Gleich am Anfang fällt der Vorhang – und zwar so zackig wie eine Guillotine. Das Geräusch lässt aufschrecken, die Überraschung sitzt. Und ein Hund bellt. Draussen im Innenhof des Aargauer Kunsthauses steht eine Hundehütte. Ihr rotes Innenleben erinnert an eine Zunge oder an eine Vulva. Wenn man sich «Cerberus» – so heisst die Arbeit – nähert, erkennt man, dass die Hütte leer ist. Die bisher grösste institutionelle Einzelausstellung von Klodin Erb – «Vorhang fällt, Hund bellt» – tut, was ihr Titel sagt. Dieser stimmt bestens auf die surreale Stimmung der Schau ein.

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Einen roten Faden im Sinn einer chronologischen Abfolge gibt es hier nicht, alles ist gleichwertig, die Ausstellung ist als dramaturgisches Gesamtkunstwerk angelegt. Was zählt, ist die emotionale Wirkung. Klassische Ausstellungskonzepte haben bei Klodin Erb nichts verloren. Gerade das Werk «Der Vorhang» führt bestens vor, worum es der Künstlerin im Kern geht: um die Dekonstruktion von Kunst.

Was ist ein Bild?, scheint diese Arbeit zu fragen. Aber während wir der Zerstörung eines Kunstwerks beiwohnen, werden wir zugleich Zeugen seiner Erneuerung. Das blaue, schwere Stück Samt gibt beim Fallen den Blick frei auf eine lachsrosa Seidenschicht, eine Farbe, die Zuversicht ausstrahlt. Der Vorhang wird langsam wieder hinaufgezogen. Und das zyklische Geschehen kann wieder von vorne beginnen.

Der Vorhang wurde so programmiert, dass er drei Mal pro Stunde mit lautem Getöse herunterfällt. Was zunächst brachial erscheint, erweist sich als zart und hoffnungsvoll. Helles und Dunkles, Abgründiges und Leichtes, Kritik und Humor liegen im Werk von Klodin Erb nahe beieinander. Ihre Arbeiten sind verspielt und lustvoll, doppelbödig und widerspenstig – aber nie kopflastig. Ihre Kunst richtet sich an alle.

Klodin Erb: «Nach der Landschaft II», 2014. Kunstharzlackfarbe auf Leinwand, 345.5 x 222 x 8.5 cm. Sigg CollectionKlodin Erb: «Nach der Landschaft II», 2014. Kunstharzlackfarbe auf Leinwand, 345.5 x 222 x 8.5 cm. Sigg Collection

Klodin Erb / Foto: René Rötheli

Klodin Erb: «Plant's Life», 1999. Textil, Kunststoff und Beistelltisch, 102 x 60 x 60 cm. Mit Genehmigung der Künstlerin.Klodin Erb: «Plant’s Life», 1999. Textil, Kunststoff und Beistelltisch, 102 x 60 x 60 cm. Mit Genehmigung der Künstlerin.

Klodin Erb / Foto: Corrado Ferrari

Klodin Erb: «Leda und der Schwan #19», 2024. Sprayfarbe, Öl und Glitzer auf Leinwand, Gänsefedern, 40 x 60 cm. Mit Genehmigung der Künstlerin und Galerie Urs Meile.Klodin Erb: «Leda und der Schwan #19», 2024. Sprayfarbe, Öl und Glitzer auf Leinwand, Gänsefedern, 40 x 60 cm. Mit Genehmigung der Künstlerin und Galerie Urs Meile.

© Klodin Erb / Foto: Stefan Altenburger Fotografie Zürich

Ihrer Zeit voraus

Geboren 1963 in Winterthur und aufgewachsen in Schaffhausen, verschlug es Klodin Erb später nach Zürich, wo sie von 1989 bis 1993 Malerei an der Hochschule für Gestaltung und Kunst (heute ZHdK) studierte. Der klassischen Malerei kehrte sie allerdings kurz nach ihrem Abschluss den Rücken, sie zerstörte all ihre Gemälde. Sie begann, mit objekthaften Stoffarbeiten zu experimentieren. Diese frühen Werke wirken heute sehr aktuell. Man würde niemals denken, dass sie in den 1990er Jahren entstanden sind.

Klodin Erb war und ist ihrer Zeit voraus. Die stille Schafferin machte stets, worauf sie Lust hatte und was sie für richtig hielt. Die Trends und Moden der Kunstwelt interessierten sie nie. In dreissig Jahren schuf sie ein dichtes und schillerndes Œuvre. Ganz unbemerkt ist ihre Arbeit nicht geblieben. Im Jahr 2022 wurde sie mit dem Prix Meret Oppenheim geehrt, einer wichtigen Auszeichnung für Schweizer Kunstschaffende.

Ist sie nun bereit für den internationalen Durchbruch? Beim Gang durch die zwölf Räume und den Innenhof des Museums muss man diese Frage bejahen. Nicht nur die einzelnen Werke beeindrucken durch ihre starke physische Präsenz, auch die Szenografie der Räume schafft ein wundervolles Panoptikum. Alles ist darin enthalten: Menschen, Tiere, Pflanzen, Phantasiewesen, Sternbilder, Gegenstände oder architektonische Elemente.

Diese Entitäten scheinen bei Erb alle miteinander verwandt. Es gibt keine Rangordnung zwischen diesen Sujets, nur wurzelartige Querbezüge. Unser Lebensraum erscheint als ein grosses Geflecht, in dem alles zusammenhängt. Das ist von der Künstlerin bewusst so gewollt.

Sie zeigt uns Kunst als einen Raum der radikalen Freiheit, in dem sich die Welt neu lesen und formen lässt. Ihre Bilder sind nicht bloss schön, sie sind Kommentare zu aktuellen gesellschaftlichen Realitäten: von Digitalisierung über Gender-Themen bis zur Beziehung Mensch-Natur.

Passend zu diesen hierarchielosen Verbindungen werden die Besucher in der Ausstellung gleich durch drei verschiedene Eingänge in Klodin Erbs Universum entführt. Wir können wählen, welchen Weg wir nehmen und wo wir abzweigen, wie im «echten» Leben. Nehmen wir den mittleren, der von Fruchtbarkeit, Sexualität und der kreativen Kraft der Ideen erzählt? Oder entscheiden wir uns für einen dunklen Einstieg, in dem spirituelle Themen wie Tod und Vergänglichkeit verhandelt werden?

Wir könnten auch den Weg der Geburt und der Persönlichkeitsentwicklung beschreiten. Durch dieses beinahe filmische Setting werden Besucher zu Protagonisten, sie werden gleichsam Teil dieser Inszenierung.

Klodin Erb: «Kräfte und Säfte #19», 2021. Dispersion, Öl und Sprayfarbe auf Japanpapier auf Keilrahmen, 72 x 55 cm. Mit Genehmigung der Künstlerin und Bernheim Gallery.Klodin Erb: «Kräfte und Säfte #19», 2021. Dispersion, Öl und Sprayfarbe auf Japanpapier auf Keilrahmen, 72 x 55 cm. Mit Genehmigung der Künstlerin und Bernheim Gallery.

Klodin Erb / Foto: Corrado Ferrari

Klodin Erb: o. T., 2010. Öl auf Leinwand, 160 x 120 cm. UBS Art Collection.Klodin Erb: o. T., 2010. Öl auf Leinwand, 160 x 120 cm. UBS Art Collection.

Klodin Erb / Foto: Lee Li

Klodin Erb: «Venus in fur", 2016. Öl auf Leinwand, 20 x 30 cm. Privatsammlung, Zürich.Klodin Erb: «Venus in fur“, 2016. Öl auf Leinwand, 20 x 30 cm. Privatsammlung, Zürich.

© Klodin Erb / Foto: Stefan Altenburger Fotografie Zürich

Die Künstlerin als Zitrone

Man kann auf dem Rundgang sogar der Künstlerin selbst begegnen – als Zitrone. Das ist kein Scherz. Nicht nur mag sie Zitronen ausserordentlich, sie identifiziert sich auch mit dieser knallig gelben Frucht. Grossartig etwa ihr Video «The Sweet Lemon Ballad», in dem sie als Zitrone verkleidet durch Kulissen und wirkliche Umgebungen spaziert, oder ihr Selbstporträt als Zitrone – ein kleinformatiges Gemälde, das an das bekannte Bild «Wanderer über dem Nebelmeer» von Caspar David Friedrich erinnert.

Sogar in der legendären Pelztasse von Meret Oppenheim kommt bei Erb eine Zitrone zu liegen. Diese Zitate und Referenzen zeugen vom widersprüchlichen Wunsch der Künstlerin, sich in die Tradition der abendländischen Kunstgeschichte, insbesondere der Malerei, einzuschreiben und sich zugleich über sie hinwegzusetzen.

Überhaupt liebt sie es, Konventionen zu hinterfragen: etwa beim Thema Geschlecht und Identität. Auch diesbezüglich startete sie ihre Auseinandersetzung bei einem Vorbild, dem Roman «Orlando» von Virginia Woolf. Darin lebt die gleichnamige Figur über 500 Jahre und wechselt während dieser Zeitreise auch das Geschlecht.

Es ist genau diese Metamorphose, die Erb daran interessiert. Zwischen 2013 und 2021 entstehen rund 200 Porträts von Menschen – darunter Freunde oder bekannte Persönlichkeiten aus Pop-Kultur oder Politik –, Tieren, Phantasiewesen oder Objekten. Die schier unendliche Variation widerspiegelt sich auch im Malstil: Die Figuren sind teils klassisch gemalt, teils frei in gestischen Pinselstrichen festgehalten. Die Bilder zelebrieren die Diversität unserer Daseinsformen.

Dass es Erb um ein kollektives Porträt aller Lebewesen geht, wird auch in der Hängung in Aarau zum Ausdruck gebracht. Auf dem hellblauen, an fliessendes Wasser erinnernden Untergrund scheinen all diese Gestalten ineinanderzufliessen. Dieser dichte malerische Raum ist gleichsam das Herzstück der Ausstellung.

Klodin Erb beherrscht die grosse Geste und wird dabei nie pathetisch. Wie leichtfüssig sie Populärkultur mit Mythologie und Politik verbindet, zeigt sich in der Ausstellung auch an drei grossformatigen neuen Gemälden. Man müsste die Serie «Planetarium» als begehbare Himmelskarten bezeichnen. Inspiriert von mittelalterlichen Karten aus ihrem Familienarchiv verbindet die Künstlerin erfundene astrologische Symbole mit bestehenden und verweist damit mit einem Augenzwinkern auf die wachsende Beliebtheit von astrologischen Vorhersagen.

Die Leinwände sind teilweise durchlöchert und haben durch ihre hölzernen Stützen etwas von einem Bühnenbild. Erb schafft gleichsam ein Theatrum Mundi, ein Welttheater. Und erst noch eines, das geografische Grenzen überwindet. Drei der insgesamt sechs monumentalen Arbeiten werden nämlich fast zeitgleich in einer Ausstellung im Musée des Beaux-Arts in Le Locle gezeigt. Damit überwindet die Künstlerin mit ihrer Arbeit nicht nur kosmische Grenzen, sondern darüber hinaus auch so irdische wie den Röstigraben.

Klodin Erb: Orlando #175, 2019 Öl auf Leinwand, 60 x 50 cm. Mit Genehmigung der Künstlerin und Galerie Urs MeileKlodin Erb: Orlando #175, 2019 Öl auf Leinwand, 60 x 50 cm. Mit Genehmigung der Künstlerin und Galerie Urs Meile

© Klodin Erb / Foto: Stefan Altenburger Fotografie Zürich

«Vorhang fällt, Hund bellt». Aargauer Kunsthaus, Aarau, bis 4. Januar 2026. «Toutes le savent, même les anges». Musée des Beaux-Arts, Le Locle, 11. Oktober 2025 bis 1. März 2026.