Deutschland ist die Wirtschaftsmacht Europas, Frankreich eine führende Militärmacht. Diese Überzeugung gilt nicht mehr. Dabei braucht der Kontinent die deutsch-französische Einheit.

Ulrich Speck10.10.2025, 05.30 UhrDie alte Grösse ist vorüber. Frankreich steckt in einer politischen Krise fest, der Einfluss in Europa und der Welt schwindet.Die alte Grösse ist vorüber. Frankreich steckt in einer politischen Krise fest, der Einfluss in Europa und der Welt schwindet.

Imago/Christian Liewig/ Bestimage

Die europäische Integration war über Jahrzehnte vor allem eine deutsch-französische Annäherung. Frankreich wurde seit 1870 drei Mal von Deutschland angegriffen, im Zweiten Weltkrieg verschwand es als unabhängiger Staat.

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Nach 1945 war das wichtigste Ziel Frankreichs entsprechend die dauerhafte Schwächung Deutschlands: durch die Abtrennung des Saarlandes, durch die Kontrolle des für die deutsche Kriegsfähigkeit so wichtigen Ruhrgebiets und indem es eine starke Wiederaufrüstung Deutschlands verhindern wollte.

Paris konnte diese Ziele gegen den Widerstand des übermächtigen Amerika nicht durchsetzen. Washington brauchte ein prosperierendes und wehrhaftes Westdeutschland als Bollwerk gegen die Sowjetunion.

Einen Ausweg für Paris bot der von Washington geförderte europäische Einigungsprozess, der die Bundesrepublik dauerhaft in Europa einbinden und damit das Risiko von Feindseligkeiten verringern sollte. Nicht zufällig stand die gemeinsame Kontrolle von kriegswichtigen Gütern, von Kohle und Stahl, im Zentrum dieses Annäherungsprozesses.

Das deutsch-französische Duo

Ab den 1950er Jahren war die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich die zentrale Achse, um die sich die europäische Zusammenarbeit bewegte. Legendär wurde das Duo Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in den 1960er Jahren sowie jenes von Helmut Kohl und François Mitterrand in den 1980er Jahren.

Als Gerhard Schröder Ende der 1990er Jahre antrat, um eine stärker an deutschen Interessen orientierte Europapolitik durchzusetzen, gab er bald wieder auf und wurde seinerseits zum Partner von Jacques Chirac. Gemeinsam orchestrierten die beiden den europäischen Widerstand gegen den amerikanischen Irakkrieg im Jahr 2003.

Dass die Bundesrepublik wirtschaftlich stärker als Frankreich wurde, irritierte die Franzosen, weil es ihren Status als überlegene Macht unterminierte. Umso mehr rückte im französischen Bewusstsein die Bedeutung Frankreichs als weltpolitischer Akteur und Militärmacht in den Vordergrund: atomar bewaffnet und mit Veto-Sitz im Uno-Sicherheitsrat.

In Europa pendelte sich ein machtpolitisches Gleichgewicht ein: Deutschland war eine wirtschaftliche Weltmacht, während sich Frankreich im Rang einer politisch-militärischen Mittelmacht mit globaler Bedeutung halten konnte.

Kontinuität nach der Wiedervereinigung

Die deutsche Wiedervereinigung bedrohte dieses Gleichgewicht. Deutschland würde endgültig zum Hegemonen Europas werden, so die Befürchtung Frankreichs. François Mitterrand versuchte zunächst, die Wiedervereinigung zu verhindern, er kam aber gegen den Widerstand der USA nicht an.

Die Bundesrepublik war in den Folgejahren stark damit beschäftigt, West und Ost zusammenzubringen. In Europa blieb das Machtgleichgewicht zwischen Frankreich und Deutschland damit vorerst bestehen.

Auch Angela Merkel, die anders als ihre Vorgänger keine westliche Prägung ins Amt mitbrachte, ordnete sich in die traditionelle deutsch-französische Partnerschaft ein. Als in den USA Donald Trump 2016 zum Präsidenten gewählt wurde, sympathisierte Merkel mit Macrons Idee einer europäischen Autonomie und Souveränität. Das hätte eine Absage an den traditionellen deutschen Transatlantizismus dargestellt, für den sich Merkel ab 2005 einsetzte.

Doch aus der Rhetorik der Abkopplung von den USA folgte nichts Substanzielles. Emmanuel Macron hatte, indem er die Vision eines autonomen Europa in seinen Machtanspruch einwob, zwar die diskursive Führung in Europa gewonnen, nicht aber die strategische Führung. Vor allem schaffte es Macron trotz allem Werben nicht, Deutschland zum Mitstreiter seiner Europa-Vision zu machen.

Frankreichs Hoffnung auf Führung

Nach dem 2016 beschlossenen Austritt Grossbritanniens aus der EU schien die machtpolitische Stunde Frankreichs geschlagen zu haben. Mit Grossbritannien verliess der engste Verbündete Amerikas und wichtigste machtpolitische Rivale Frankreichs in Europa die EU. Grossbritannien ist ebenfalls Atommacht und hat einen Veto-Sitz im Uno-Sicherheitsrat. Frankreichs Führung in der EU schien in greifbarer Nähe zu sein.

Doch Berlin spielte nicht mit. Die französischen Visionen erschienen zunehmend unrealistisch in einer neuen geopolitischen Welt der Konflikte. Der Krieg in der Ukraine machte dann endgültig klar, in welchem Masse Europa von der amerikanischen Führung abhängig ist, militärisch wie strategisch.

Für eine Loslösung von den USA gab es in Europa keine Mehrheit: Je bedrohlicher Russland wurde, desto deutlicher wandten sich der Osten und der Norden des Kontinents Amerika zu.

Die Machtverschiebung wird offenbar

Jetzt tritt in Frankreich die wirtschaftliche und politische Krise des Landes offen zutage. Sie macht deutlich, dass unter der Oberfläche der klassischen deutsch-französischen Rituale längst eine Machtverschiebung stattgefunden hat. Deutschland ist machtpolitisch an Frankreich vorbeigezogen.

Auch Deutschland hat mit strukturellen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, auch in Deutschland wird der Führungsanspruch der Mitte zunehmend infrage gestellt. Doch es ist weniger geschwächt als Frankreich. Vor allem aber engagiert sich Deutschland nun in einem Bereich, den Frankreich lange Zeit als seinen grössten komparativen Vorteil gegenüber Deutschland gesehen hat. Mit massiven Investitionen in seine Streitkräfte überholt Deutschland Frankreich als Militärmacht.

Deutschland wandelt seine ökonomische Stärke in sicherheitspolitische Stärke um. Und es kann erheblich mehr in seine Streitkräfte investieren als Frankreich, das weder mehr Schulden machen noch – angesichts der politischen Blockade – an anderen Stellschrauben drehen kann, um die nötigen Investitionen zu tätigen.

Frankreich kann seine wirtschaftliche Schwäche nicht mehr mit aussen- und sicherheitspolitischer Stärke kompensieren und darauf einen Führungsanspruch gründen.

Macrons Stern ist im Sinken begriffen

Zugleich hat Frankreich in den Macron-Jahren den aussenpolitischen Nimbus einer weltweit wichtigen Mittelmacht verloren. Aus dem subsaharischen Afrika wurde Frankreich von Russland verdrängt. In Nordafrika spielt es kaum noch eine Rolle. Im Indopazifik verkündet Macron lautstark einen dritten Weg zwischen China und den USA und wird doch von niemandem ernst genommen.

Macrons kürzliche Anerkennung von Palästina hat Frankreich endgültig zum Nichtspieler in der komplexen Welt der Diplomatie gemacht, nachdem Macron bereits in Libanon mit verschiedenen grossspurigen, aber folgenlosen Interventionen zeigte, dass es im Nahen Osten längst kein wichtiger Akteur mehr ist.

Auch in Europa ist Macrons Stern erheblich gesunken, auch weil er seinen grossen Worten in Sachen Ukraine und Russland kaum Taten folgen lässt. Immer wieder zieht Paris mit grossen Initiativen Aufmerksamkeit auf sich. Doch Macron setzt diese kaum um.

Macron glaubt offenbar, Führen heisse, voranzugehen und zu erwarten, dass die anderen schon folgten. Doch diese Methode ist selbst in Frankreich nicht mehr erfolgreich, obwohl der Präsident dort eine quasimonarchische Position einnimmt.

Berlin braucht Paris

Ein schwaches Frankreich, das international nicht mehr ernst genommen wird, wird zum Problem für Europa. Und sollte das rechtspopulistische Rassemblement national weiter an Einfluss in Frankreich gewinnen, vergrössert sich das Problem.

Ob Frankreich ohne Macron noch ein Vorkämpfer eines starken Europa sein wird, ist eine offene Frage. Wenn man in Paris glaubt, französische Interessen immer weniger über die EU durchsetzen zu können, dann wird der Wert der europäischen Einigung zunehmend infrage gestellt.

Frankreichs Engagement in der EU hängt erheblich davon ab, ob man glaubt, damit Frankreichs Machtposition zu verbessern. Wenn dieser Zusammenhang nicht mehr gegeben ist, dann wird Frankreichs Rolle in Europa unsicher.

Deutschland braucht Frankreich als aussen- und sicherheitspolitischen Partner. Auch wenn der Blick vor allem nach Osten geht – und Polen, das Baltikum und die nordischen Länder immer wichtiger werden –, bleibt Frankreich ein Schlüsselpartner bei der Abwehr Russlands.

Berlin kann sich zwar künftig auf den Osten und den Norden stützen, um Russland abzuschrecken. Doch wenn es die erheblichen Ressourcen der EU mobilisieren will, geht das nur gemeinsam mit Paris.

Das gilt auch für die Handelspolitik. In einer Zeit, in der Wirtschaftsbeziehungen immer stärker zum Instrument der Machtpolitik werden, muss sich die EU intensiver mit gleichgesinnten Regionen und Ländern wie Lateinamerika oder Indien verbinden. Nur wenn Frankreich mitzieht, kann eine solche Strategie erfolgreich sein.