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Deutschland und die NATO müssen sich auf eine offene Auseinandersetzung mit Russland einstellen. Das ist die Meinung eines Militärhistorikers.
Berlin – Der Sommer 2025 liegt hinter uns. Ob sich die dramatische Prophezeiung von Sönke Neitzel bewahrheitet, muss sich in den kommenden Monaten zeigen. Der Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam hatte im Frühjahr für Schlagzeilen gesorgt, als er feststellte, dieser könnte der letzte Sommer im Frieden werden. Nun äußerte er sich in der ARD-Sendung „Maischberger“ zu seinen damaligen Worten, indem er sagte: „Ich bin heute ein bisschen optimistischer, das heißt nicht Entwarnung, es kann viel passieren.“
Wie entwickelt sich die Situation zwischen der NATO und Russland? Militärhistoriker Sönke Neitzel gibt bei Moderatorin Sandra Maischberger Antworten. © Screenshot ARD
Zum Zeitpunkt seiner Warnung habe er den Zerfall der NATO befürchtet. Doch US-Präsident Donald Trump habe sich nicht als so destruktiv erwiesen, wie es damals den Anschein gemacht habe. Zugleich bestätigte Neitzel aber eine zuletzt mehrmals von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) gemachte Feststellung: „Wir sind nicht mehr im Frieden, wir sind aber auch nicht in einem erklärten Krieg. Wir sind irgendwas dazwischen.“
Putin vor Angriff auf NATO? Militärhistoriker will militärische Auseinandersetzung nicht ausschließen
In diesen Zeiten müssten sich Deutschland und die NATO auf alles vorbereiten. Das gelte seit dem 24. Februar 2022 – an jenem Tag schickte Kreml-Chef Wladimir Putin seine Soldaten über die Grenze und begann seinen Ukraine-Krieg, in dem seither unzählige Menschen auf beiden Seiten getötet und viele Städte dem Erdboden gleichgemacht wurden.
Neitzel betonte daher auch: „Ich würde nach wie vor sagen, die nächsten drei Jahre sind die gefährlichsten. Es kann nach wie vor zu einer militärischen Auseinandersetzung mit Truppen zwischen Russland und der NATO kommen und es kann gut sein, dass unsere Truppen in Litauen kämpfen müssen.“ In dem baltischen Staat ist derzeit die Panzerbrigade 45 der Bundeswehr stationiert, um die Ostflanke des transatlantischen Verteidigungsbündnisses zu stärken.
Hoher Besuch am Waffen-Tisch: Kreml-Chef Wladimir Putin (r.) schaute im September beim Sapad-Manöver seiner Armee vorbei. © IMAGO / SNAExperte über Putin: „Hat den Rubikon überschritten“
„Diese Gefahr ist da, die ist nach wie vor da“, ergänzte der 57-Jährige, der den genannten Zeitrahmen unter anderem mit der voraussichtlich bis 2029 herrschenden Trump-Administration sowie den „extremen Kosten für die russische Aufrüstung“ erklärte. Zudem werde Putin kaum abwarten, bis die Bundeswehr wieder über genug Truppen verfüge.
Dass der Machthaber aus Moskau auch über den Ukraine-Krieg hinaus entschlossen ist, sei eine verbreitete Meinung in der NATO und auch seine eigene Meinung. „Putin hat in gewisser Weise den Rubikon überschritten und wir sollten nichts ausschließen, sondern wir sollten unsere Hausaufgaben machen“, zog der Experte einen historischen Vergleich. Die Überquerung des norditalienischen Flusses durch Caesar und seine Truppen galt im Jahr 49 vor Christus als Kriegserklärung gegenüber dem Römischen Senat.
Drohnen über NATO-Gebiet: Neitzel hält Bedrohung dadurch für „greifbarer“
Aufgrund der Drohnen- und Jet-Überflüge – neben Deutschland waren auch Dänemark, Norwegen, Polen und Estland bereits betroffen – könne der aktuelle Zwischenzustand zwischen Frieden und Krieg wahrgenommen werden: „Die Bedrohung wird greifbarer.“ Neitzel geht sogar so weit, zu behaupten, der Westen müsse „fast dankbar sein für diese Drohnen“, denn diese würden die Dringlichkeit verdeutlichen. Und damit wohl eine Reaktion hervorrufen: „Weil Politik handelt leider immer erst, wenn was passiert.“
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Neitzel fügte an, seinen Informationen zufolge sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Russland hinter diesen Vorfällen stecke. Auch Merz müsste von BND und Bundespolizei entsprechend gebrieft worden sein, wenn er entsprechende Vorwürfe äußere. Allerdings müsse auch immer die Möglichkeit von Trittbrettfahrern bedacht werden.
Auf die Frage nach dem Motiv hinter den Drohnen, antwortete Neitzel: „Was die NATO als Szenario durchspielt, ist immer die Schwächung des Westens in einem hybriden Krieg. Die Schaffung von Unsicherheit.“ Schon jetzt werde jede beobachtete Drohne mit Russland in Verbindung gebracht: „Das ist genau die Unsicherheit, die man erzeugen will.“
Bundeswehr wird aufgerüstet: Erst im Jahr 2045 kriegstüchtig?
Darüber hinaus würden politische und rechtliche Diskussionen ausgelöst werden. Das Ziel laute letztlich, „die NATO in dieser Form, wie sie jetzt existiert, die EU in dieser Form zu zerstören und damit wieder die Kontrolle über die osteuropäischen Länder zu bekommen“. Letzteres womöglich auch nur indirekt. Die NATO gehe letztlich davon aus, dass Russland einen „uneinigen Westen“ herausfordern wolle, „indem man Soldaten schickt“.
In Berlin soll als Reaktion ein Drohnen-Abwehrzentrum auf den Weg gebracht werden, wie Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) ankündigte. Dabei geht es auch um die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bundeswehr und Bundespolizei.
Drohnen als Thema im neuen geplanten Bundespolizeigesetz (Stand: 8. Oktober)
Einsatz und Abwehr von Drohnen werden erstmals gesetzlich geregelt
Bundespolizei darf eigene Drohnen zur Überwachung und Aufklärung einsetzen (bspw. bei Großveranstaltungen oder zur Kontrolle schwer zugänglicher Bahnstrecken)
Bundespolizei erhält Befugnisse zur Abwehr gefährdender Drohnen (bspw. technische Maßnahmen wie elektromagnetische Impulse, GPS-Störungen oder physische Eingriffe)
Quelle: Bundesinnenministerium
Aus Neitzels Sicht steht Deutschland aber vor den Problemen, „dass wir den Föderalismus haben und dass wir eine Sicherheitsstruktur haben, die aus den 50er Jahren kommt, mit einer Trennung von innen und außen. Das können sie natürlich heute nicht mehr machen.“
Auch hinsichtlich der Aufrüstung der Bundeswehr geht er davon aus, dass langer Atem nötig sein wird. „Ich sage mal, die Bundeswehr braucht 20 Jahre und wir können uns gerne für das Jahr 2045 hier verabreden. Dann wird es wahrscheinlich so sein, dass wir kriegstüchtig sind. Aber ich bin sehr skeptisch, dass es wirklich schnell geht“, gab er eine Prognose ab.
Mahnen Deutschland zu mehr Eile: Militärhistoriker Sönke Neitzel (l.) und Sicherheitsexperte Carlo Masala blicken kritisch auf die Bundeswehr-Reformen. © IMAGO / HMB-Media (2)Bundeswehr und die Drohnen-Abwehr: „Das dauert alles viel zu lange“
Das Tempo in Deutschland lässt auch Carlo Masala verzweifeln. Der Professor für Sicherheits- und Verteidigungspolitik an der Universität der Bundeswehr München moniert im Stern zum Thema Drohnen-Abwehr: „In der Vergangenheit wurde das Thema sträflich vernachlässigt.“ Die nun geplanten Lieferungen sieht er als ersten Schritt: „Aber das ist an Stückzahlen noch viel zu wenig. Und es passiert viel zu langsam.“
Masala kann nicht verstehen, dass die Beschaffung bei der Bundeswehr noch immer wie in Friedenszeiten ablaufe. „Das dauert alles viel zu lange, wie übrigens in allen Bereichen bei der Bundeswehr. Wir sind nicht mehr im Frieden, sondern in Krisenzeiten, da können wir uns nicht ewig Zeit lassen“, stellt er klar. (Quellen: ARD, Stern) (mg)