Von Woltemade beeindruckt
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Am Freitagabend muss die deutsche Nationalmannschaft in der WM-Qualifikation gegen Luxemburg (20:45 Uhr) unter Beweis stellen, dass sie die Zeichen der Zeit erkannt hat. Die Euphorie um Julian Nagelsmanns Mannschaft ist nach den zuletzt zumeist enttäuschenden Auftritten arg verblasst – für das Erreichen von Platz 1 in Gruppe A zählt nach der Niederlage zum Auftakt gegen die Slowakei jedes Tor. Den Moment, um Dinge auszuprobieren, sieht der frühere Bundestrainer und Transfermarkt-Experte Jürgen Klinsmann nicht gekommen.
„Während der Quali-Phase ist es nicht angebracht, Experimente zu machen. Man muss jetzt die Spiele in Bestbesetzung gewinnen – und dann kann man in Freundschaftsspielen vor der WM noch das ein oder andere testen“, erklärt der 61-Jährige. Sechs Rückkehrer stehen mit Innenverteidiger Nico Schlotterbeck (BVB), Rechtsverteidiger Ridle Baku (RB Leipzig), den Mittelfeldspielern Aleksandar Pavlovic (Bayern) und Felix Nmecha (BVB) sowie den Angreifern Kevin Schade (FC Brentford) und Jonathan Burkardt (SGE) im Aufgebot. Mit dem nachnominierten Keeper Noah Atubolu (SC Freiburg) und Linksverteidiger Nathaniel Brown (Eintracht Frankfurt) sind zwei Neulinge dabei.
Im Null-Tore-Sturm wird es vor allem auf den bei Newcastle United stark gestarteten Nick Woltemade ankommen. Der 23-Jährige hat seinen Infekt auskuriert und ist offenbar startklar. Während Woltemade bei seinem Ex-Klub VfB Stuttgart, nun bei den Magpies und auch der U21 nervenstark vor dem Tor agierte, wartet er noch auf sein erstes Erfolgserlebnis im Trikot der A-Nationalmannschaft. Ex-DFB-Torjäger Klinsmann (47 Tore in 108 Einsätzen) hält große Stücke auf Woltemade: „Nicks Entwicklungskurve geht rasend schnell nach oben und er wird uns in der Zukunft viel Freude machen. Er hat eine Spielanlage, die sehr schwer zu verteidigen ist, und wie er sich durchboxt und sich auf dem Platz Respekt verschafft, ist beeindruckend. Trotz seiner Größe ist er unglaublich agil und auch beidfüßig im Abschluss. Wir alle sind gespannt, wie er die nächsten Hürden nimmt, und ich bin sicher, dass das erste Tor für Deutschland bald kommen wird.“
Nicht nur Woltemade, sondern auch seine Mitstreiter Burkardt, Beier und Schade haben noch keinen Länderspieltreffer vorzuweisen. Für eine Mittelstürmer-Nation wie Deutschland – Fritz Walter, Uwe Seeler, Gerd Müller, Horst Hrubesch, Klaus Fischer, Karl-Heinz Rummenigge, Rudi Völler, Oliver Bierhoff, WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose oder Klinsmann selbst lassen grüßen – ist das ein ungewöhnlicher Zustand. „Alle Anwärter auf die Startpositionen im Angriff haben genügend Qualität, um auch Tore für die Nationalelf zu schießen. Da sehe ich kein Problem“, beruhigt Klinsmann.
Klinsmann über Stürmerfrage im DFB-Team: Tür für Füllkrug bleibt offen
Während der Gladbacher Tim Kleindienst verletzt fehlt, verzichtete Nagelsmann auf Routinier Niclas Füllkrug nach mehreren Blessuren und ausbleibenden Toren im Verein. Was nicht ist, kann wieder werden, glaubt Klinsmann: „Niclas hat eine schwere Zeit hinter sich bei West Ham, aber die Tür bleibt nach wie vor offen für ihn und andere Stürmer. Die besten Argumente für alle Stürmer sind immer Tore in ihren Klubs. Da wird sich noch viel tun bis nächsten Sommer.“
Auch im Tor keimte zuletzt die Frage auf, welche Konstellation für die Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Kanada und Mexiko die beste sein wird. Rufe nach einer Rückkehr von Weltmeister Manuel Neuer (FC Bayern) wurden wieder lauter. Marc-André ter Stegen (FC Barcelona) muss sich weiter auskurieren, in seiner Abwesenheit sicherte sich Oliver Baumann (TSG Hoffenheim) vorübergehend den Platz zwischen den Pfosten. Ebenfalls berufen wurden Alexander Nübel (VfB Stuttgart), Finn Dahmen (FC Augsburg) und erstmals Atubolu.
Klinsmann sagt: „Für die WM-Qualifikation sind die jetzigen Torleute auf jeden Fall stark genug. Wer dann bei der WM im Tor spielt, ist eine andere Frage. Manuel Neuer ist nach wie vor der beste deutsche Torwart, und wer weiß, vielleicht setzen sie sich vor der WM zusammen und holen ihn zurück?“ Baumann wollte sich jüngst von der Dauerdiskussion um ein mögliches Neuer-Comeback nicht beeinflussen lassen.
So oder so sollte die Qualität ausreichen, um Luxemburg klar zu schlagen. Am Montagabend geht es in Nordirland (20:45 Uhr) weiter. Zwei Pflichtaufgaben in Folge. „Das sind keine einfachen Spiele und vor allem mental herausfordernd für die Jungs. Man muss das Spiel hochkonzentriert und aggressiv angehen und von Anfang versuchen, das Tempo hoch zu halten. Das ist einfacher gesagt als getan. Es sind reine Ergebnisspiele und keine Gradmesser in der Entwicklung für das Turnier. Es müssen einfach sechs Punkte her“, betont „Sommermärchen“-Coach Klinsmann.
WM-Titel als Ziel? Klinsmann versteht Nagelsmann und Rummenigges Kritik
Klare Erfolge würden zudem guttun, um die Stimmungslage vor dem WM-Jahr wieder zu verbessern. Die letzten Länderspiele des Jahres steigen im November in Luxemburg (14.11.) und gegen die Slowakei (17.11.). „Sobald die Qualifikation geschafft ist, wird sich alles in Richtung WM verlagern und die Euphorie automatisch nach oben entfacht. Die Mannschaft muss die Resultate jetzt einfahren, was sie auch tun wird, und alles andere kommt danach von ganz alleine“, ist sich Klinsmann sicher.
Dass Bundestrainer Nagelsmann umgehend nach dem Viertelfinal-Aus bei der Heim-EM 2024 den WM-Titel als Ziel formulierte, brachte dem 38-Jährigen Kritik von Bayern-Aufsichtsrat Karl-Heinz Rummenigge ein, der in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ schon im Juni erklärte: „Deutschland war immer dann besonders erfolgreich, wenn man sich nicht zwangsläufig selbst zum Favoriten erkoren hat, sondern mit einem Schuss Demut ins Turnier gegangen ist. Vielleicht wäre es klug, sich das in Erinnerung zu rufen.“
Richtig oder übertrieben? Klinsmann ordnet ein: „Es ist unser aller Ziel und Wunsch, bald wieder Weltmeister zu werden, und ich sehe nichts Falsches daran, das offen auszusprechen. Aber Kalle hat auch recht, wenn er damit meint, dass wir mit Bescheidenheit die Dinge angehen wollen. Beide Aussagen sind richtig. Wir haben eine Mannschaft, die von Natur aus mit zu den Favoriten zählt.“ Was sie nun zunächst einmal gegen die vermeintlich Kleinen im Weltfußball unter Beweis stellen muss.