„Eine Art Entscheidung“ habe er zu der Frage getroffen, der Ukraine die von ihr begehrten Tomahawk-Marschflugkörper zu liefern, sagte US-Präsident Donald Trump vor wenigen Tagen. Eine Ankündigung, so vage wie es bei Trump oft der Fall ist – und doch scheint die Ukraine dem Besitz der Waffe so nahe zu sein, wie noch nie zuvor. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte, Trump bei seinem letzten Treffen mit ihm um den Marschflugkörper gebeten zu haben. Der Flugkörper mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern gehört nicht nur zu den wichtigsten konventionellen Waffen im Arsenal des US-Militärs, sondern stellt auch alles in den Schatten, was die Ukraine bislang von ihren Unterstützern an reichweitenstarken Waffen erhalten hat. Selbst die Lieferung einiger weniger Exemplare wäre für den ukrainischen Präsidenten ein machtvoller PR-Stunt.

Doch wäre es auch mehr als das – eine Art Gamechanger, als der sich bisher gelieferte Waffen nicht erwiesen haben? Storm-Shadow-Marschflugkörper und ATACMS-Raketen waren dafür viel zu spät in der Ukraine angekommen, F-16-Jets in zu geringer Stückzahl, der deutsche Taurus nie. Tomahawks hingegen könnten selbst in der einfacheren Ausführung mit 1.600 Kilometern Reichweite auf den ersten Blick tatsächlich einen Unterschied ausmachen: Die Waffe gilt als zielgenau, wurde in zahlreichen Konflikten erprobt – und würde eine so große Fläche in Russland abdecken können, dass das russische Militär große Schwierigkeiten hätte, ihr auszuweichen. 

Das Insitute for the Study of War (ISW) identifizierte fast 2.000 russische Militärziele in Reichweite von Tomahawks, sollten diese aus der Ukraine heraus eingesetzt werden. Darunter fallen dutzende Militärflugplätze und Munitionslager, sowie besonders bedeutende Ziele wie der Flugplatz Engels-2 – von dem aus russische Bomber ihre Luftangriffe auf die Ukraine starten – und die Drohnenfabrik in Tatarstan, wo Russland täglich mehr als 100 Langstreckendrohnen zusammenschrauben lässt. Zwar können ukrainische Drohnen beide Ziele längst erreichen, doch ihre Sprengkraft bleibt hinter jener eines echten Marschflugkörpers weit zurück. 

© Lea Dohle

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Aufseiten Russlands will das ISW daher Besorgnis über die mögliche Lieferung des Tomahawk erkannt haben: Dafür würden die Drohungen aus dem Kreml sprechen, die Staatschef Wladimir Putin diesbezüglich verlautbaren ließ. Dieser hatte dazu zuletzt eine Doppelbotschaft ausgesandt, wie sie für den Umgang des Kreml mit Waffenlieferungen an die Ukraine inzwischen üblich ist: Tomahawks würden womöglich eine neue Stufe der Eskalation darstellen, zugleich aber natürlich keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf haben. Letzteres ist immerhin zur Hälfte richtig: Selbstverständlich würde die Waffe das ukrainische Militär stärken. Doch auch ukrainische Militäranalysten, wie etwa Oleksandr Kowalenko – der in der Regel betont optimistisch auftritt – räumen ein, dass der Tomahawk ebenso wenig wie alle anderen Waffen allein für sich kriegsentscheidend sein kann.

Zu einem möglichen Einsatz des Marschflugkörpers durch die Ukraine bleiben allerdings noch Fragen offen. Auch Tomahawks können abgeschossen werden, es wären also Hunderte Exemplare nötig, damit die Ukraine sie tatsächlich wirkungsvoll einsetzen könnte. Außerdem müssten die USA das Raketenstartsystem Typhon gleich mitliefern: Tomahawk ist eine seegestützte Waffe, die Ukraine besitzt aber weder Kriegsschiffe noch U-Boote. Über das erst 2023 in Dienst gestellte Typhon-System verfügen die USA lediglich in geringer Stückzahl. Das macht eine Lieferung nicht unmöglich, aber weniger wahrscheinlich. Und all das gilt sowieso nur für den Fall, dass Trump die Lieferung tatsächlich erwägt, und nicht nur versucht, verbal den Druck auf Putin zu erhöhen.

Typhon-Raketenstartsystem des US-Militärs bei einer Übung in Japan im September 2025 © Tim Kelly/​Reuters

Weiterhin könnten Ziele in Russland erst anvisiert werden, wenn die USA ihr erst Ende 2024 aufgehobenes, unter Trump aber wieder verhängtes Verbot des Einsatzes von US-Waffen auf russischem Staatsgebiet erneut aufweichen. Trump hatte diesbezüglich bereits gesagt, zunächst wissen zu wollen, was die Ukraine mit der Waffe beschießen werde. Unbestätigten Medienberichten zufolge soll den USA bereits eine Liste von Zielen überreicht worden sein – ein ähnliches Vorgehen wie vor einem Jahr, als ukrainische Diplomaten die Lieferung von ATACMS erwirkten. Wie das Wall Street Journal (WSJ) und die Nachrichtenagentur Reuters berichten, sollen die USA die Ukraine immerhin wieder mit Aufklärungsdaten für Ziele in Russland versorgen, erstmals seit Trumps Amtsantritt. Auch das ist für die Regierung in Kyjiw ein ähnlich bedeutender diplomatischer Erfolg, wie es auch der politische Aspekt einer Tomahawk-Lieferung wäre: Ein eindrückliches Symbol dessen, dass Trump das Land, anders als befürchtet, nicht fallen lässt.

Sich die US-Waffenlieferungen nachhaltig zu sichern, ist dabei nur eines der Ziele der ukrainischen Rüstungspolitik. Das andere, von den Lieferungen so unabhängig zu werden wie möglich. Auf diesem Gebiet hat die ukrainische Rüstungsindustrie vor allem bei Drohnen Erfolge erzielt – in einer Dimension, dass inzwischen sogar die USA an einem Technologietransfer aus der Ukraine interessiert sind. Vor allem aber setzt die Regierung in Kyjiw Hoffnungen in Raketen und Marschflugkörper, die in der Ukraine entwickelt und gebaut werden. Sie sollen gewährleisten, dass Ziele in Russland auch ohne Erlaubnis aus Washington angegriffen werden können. 

Für Aufmerksamkeit sorgte in dieser Hinsicht bereits im August die Vorstellung des Marschflugkörpers Flamingo. Die von der ukrainischen Firma Fire Point entwickelte Waffe soll eine Reichweite von bis zu 3.000 Kilometern haben. Sie soll einen Gefechtskopf von einer Tonne Gewicht besitzen und doppelt so viel Sprengkraft haben wie der Tomahawk. Durch einen simplen Aufbau sowie vergleichsweise niedrige Kosten von 500.000 Dollar pro Stück könnte sie in Serie gebaut werden. 

Doch auch Monate nach der Präsentation des Flamingo bleiben viele Fragen um die Waffe ungeklärt. So wollte Fire Point bis Ende Oktober bis zu 200 Marschflugkörper monatlich bauen können. Laut einem Bericht des Economist sollen es derzeit allerdings etwa 60 sein. Zudem ist die vom Hersteller angegebene Präzision – die Abweichung vom Ziel betrage nicht mehr als 14 Meter – zweifelhaft: Bei einem mutmaßlichen Einsatz der Waffe gegen eine Basis des russischen Geheimdiensts FSB auf der Krim soll mindestens ein Marschflugkörper um etwa 100 Meter vom Ziel abgewichen sein.

Flamingo-Marschflugkörper in einer Produktionsanlage des ukrainischen Herstellers Fire Point im August 2025 © Efrem Lukatsky/​AP/​dpa

Dass der Flamingo bisher kaum eingesetzt wurde, muss nicht bedeuten, dass er unbrauchbar ist. Es ergäbe Sinn, wenn die Ukraine Russland nicht langsam an die Abwehr des Marschflugkörpers gewöhnte, sondern ihn zunächst hortete, um ihn in größeren Stückzahlen pro Angriff einsetzen zu können. Notwendig wäre dies ohnehin. Mit seiner Masse von insgesamt sechs Tonnen, einer Flügelspannweite von sechs Metern und einer mehr als doppelten Länge ist der Marschflugkörper für russische Radare gut sichtbar und dürfte deutlich leichter abgeschossen werden als etwa der Tomahawk. Am Donnerstagabend verbreiteten russische Militärblogger Fotos, die Trümmer eines abgeschossenen Flamingo-Flugkörpers zeigen sollen. 

Ein weiteres Problem, das nicht nur die Produktion des Flamingo, sondern fast alle ukrainischen Waffen betrifft: Russlands Luftwaffe hat die Rüstungsindustrie des Landes im Visier und kann sie, im Gegensatz zu Produktionsanlagen in westlichen Ländern, jederzeit attackieren. Ukrainische Regierungsbeamte sagten zuletzt der Financial Times, im Sommer seien allein bei Kyjiw vier Drohnenfabriken bei Angriffen getroffen worden. 

Ein erfolgreicher Einsatz des Flamingo gegen ein bedeutendes russisches Ziel steht somit noch aus – und je länger das der Fall ist, desto mehr riskiert die Ukraine, dass die Hoffnung auf ein Erfolgsmodell in Enttäuschung umschlägt. Den ausgereifteren Flugkörper Neptun, mit dem das Land schon mehrfach bedeutende Ziele wie den Raketenkreuzer Moskwa, russische Ölverarbeitungsanlagen und Flugabwehrsysteme zerstört hat, setzte die Ukraine zwar erfolgreich ein. Allerdings ist der Neptun teurer, technisch anspruchsvoller und kommt für die Massenproduktion wohl nicht infrage. 

Anders als die Ukraine, die ihre Raketenprogramme in den Jahren vor der russischen Invasion aus Geldnot eingestampft und nach Kriegsbeginn eilig wiederaufgenommen hat, besaß Russland schon vor Kriegsbeginn eine laufend produzierende Raketenindustrie. Und diese steht ebenfalls nicht auf der Stelle. Beunruhigend lesen sich in diesem Kontext Berichte, wonach Russland in den vergangenen Monaten seine ballistischen Raketen modernisiert hat. So geht aus einem Bericht des US-Verteidigungsministeriums an den US-Kongress (PDF) hervor, dass russische ballistische Raketen neuerdings kurz vor dem Ziel ihre Flugbahn verändern, was deren Abschuss selbst durch leistungsfähige Systeme wie den Patriot deutlich erschwert. Die Financial Times schrieb dazu vor wenigen Tagen unter Berufung auf ukrainische und westliche Offizielle, die Abschussrate habe sich seit dem Sommer von 37 auf sechs Prozent verschlechtert. 

Für die Ukraine ist diese Nachricht umso schlechter, als dass ballistische Raketen ohnehin besonders schwer abzuwehren sind – und Russland seinerseits immer weniger Marschflugkörper und zunehmend ballistische Raketen einsetzt. Nicht umsonst arbeitet auch die Ukraine seit Jahren daran, eine eigene ballistische Rakete zu entwickeln und in Serie herstellen zu können. Bisher ist ihr das nicht gelungen. Angesichts der Mängel des Flamingo und den bisher mutmaßlich geringen Produktionszahlen des Neptun wird das wohl vorerst so bleiben. 

© Andre Alves/​Anadolu/​Getty Images


1325 Tage


seit Beginn der russischen Invasion

Die Zitate: Kyjiw im Dunkeln

In der Nacht zum Freitag setzte Russland das ukrainische Stromnetz großflächigen Luftangriffen aus – auf den Tag genau drei Jahre nach der ersten großen Angriffswelle gegen die ukrainische Energieinfrastruktur am 10. Oktober 2022. Die Attacke mit Hunderten Drohnen und 32 Marschflugkörpern und Raketen sorgte nach Angaben aus Kyjiw in zehn Regionen des Landes für umfangreiche Stromausfälle. 

Allein in Charkiw hatten 200.000 Menschen keinen Stromzugang, in der Hauptstadt fiel der Strom ebenfalls aus. Zwar sei für 270.000 Bewohner Kyjiws der Stromzugang nach mehreren Stunden wiederhergestellt worden, teilte Energieministerin Switlana Hryntschuk mit – sie verschwieg aber, wie viele Menschen noch im Dunkeln blieben. 

Kyjiw ohne Strom nach einem russischen Luftangriff in der Nacht zum 10. Oktober 2025 © Sergei Supinsky/​AFP/​Getty Images

Somit erfüllte sich die optimistische Prognose von Maxym Timtschenko, dem Leiter des Energieversorgers DTEK, nicht. Timtschenko hatte der spanischen Zeitung El País in einem Interview, das ausgerechnet am Freitagmorgen – also bereits nach dem nächtlichen Angriff – erschienen war, mit Blick auf den nahenden Winter gesagt: 

Dieses Mal wird es Russland nicht gelingen, die Ukraine in die Dunkelheit zu stürzen.

DTEK-Leiter Maxym Timtschenko

Das russische Verteidigungsministerium gab indessen bekannt, dass das ukrainische Energienetz Ziel des Angriffs war – eine „Antwort“ auf „terroristische“ Attacken der Ukraine. Zu den Folgen des Angriffs teilte das Ministerium mit:

Alle Ziele des Angriffs wurden erreicht.

Russisches Verteidigungsministerium

Rüstung, Waffen und Militärhilfen: Flugabwehrpanzer und Land-Drohnen

  • Der Rüstungskonzern Rheinmetall liefert nach eigenen Angaben Flugabwehrsysteme des Typs Skyranger 35 in die Ukraine – montiert auf Gestellen des veralteten Kampfpanzers Leopard 1. Das mit dem Gepard-Flugabwehrkanonenpanzer vergleichbare System wurde bereits vergangenes Jahr in einer solchen Ausführung als Zwischenlösung für die Ukraine vorgestellt. Eine Zahl der zugesagten Systeme nannte Rheinmetall nicht, sprach aber von einem Auftrag in dreistelliger Millionenhöhe – finanziert „durch einen EU-Staat“. Wann die Systeme in der Ukraine eintreffen sollen, teilte Rheinmetall nicht mit.
  • Der estnische Hersteller Milrem Robotics hat der Ukraine 150 unbemannte Landfahrzeuge des Typs Themis zugesagt. Die autonomen Systeme werden bereits seit 2022 von der ukrainischen Armee eingesetzt, etwa zu Aufklärungszwecken. 

Der Ostcast – :
Keine Panik auf Finnisch

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Über den Tellerrand: Eskalationsrisiko und „Kill Zone“

  • The Russia-Ukraine war has entered a new phase: Wirtschaftlicher Druck und hohe Verluste setzen dem Zeitfenster für einen klaren russischen Sieg Grenzen, analysiert das Institut IISS. Das erhöhe das Risiko, dass Wladimir Putin den Krieg weiter eskaliere, bevor sich dieses Fenster schließe.
  • Inside the Kill Zone: Der Einsatz von Drohnen lässt die Frontlinie zunehmend zu einer porösen, undefinierten grauen Zone werden. Das ukrainische Portal Texty.org stellt in Grafiken dar, was das für die Kriegführung bedeutet.

Krieg gegen die Ukraine

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