Eine Vorstellung davon, wie der Osten Deutschlands verjüngt und belebt werden könnte, bietet das Multiplexkino am S-Bahnhof Hohenschönhausen, wenn ukrainische Filme laufen. Im Original mit deutschen Untertiteln. „Ukrajina Cinema“ heißt die Reihe. Es ist ein Stück Heimat für Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer in Berlin.

Auch diesmal, an einem Abend Ende der Woche, ist Saal 3 wieder seit langem ausverkauft. 400 Plätze. „Sehr, sehr selten“ sei das der Fall, sagt der Kinochef André Pesek. Vielleicht noch manchmal beim monatlichen Seniorenkino. Da steht als nächstes Ende Oktober „Der Buchspazierer“ auf dem Programm.

Frauen, Mädchen, Jungen und Männer wuseln an dem Abend durch das Foyer – in dieser Reihenfolge. Popcorn wird in Eimer geschaufelt, Softdrinks und Slushies werden gezapft. Die Atmosphäre ist freundlich, die Euphorie gebremst. Für kriegsversehrte Soldaten liegen 16 Freikarten bereit.

Zuletzt war Valeria in der Ukraine im Kino, vor mehr als vier Jahren

Zwei Freundinnen sind aus der Nähe vom Bahnhof Lichtenberg gekommen. Valeria (18) und Solomija (17) leben seit vier Jahren in Berlin und waren in der Stadt noch nie im Kino. Sie sprechen Deutsch wie Muttersprachlerinnen. Ihre berufliche Zukunft scheint geklärt: Hotelkauffrau und Erzieherin. Was für ein Film laufen wird, ist ihnen egal. In der Ukraine waren die beiden oft im Kino, sagen sie. An einen Film können sie sich gerade nicht mehr erinnern.

Unter den Gästen gibt es vereinzelt auch welche, die die Untertitel brauchen. Ein gebürtiger Zwickauer etwa, Anfang 40, der nur am Wochenende zu Hause bei seiner Familie ist und von IT-Kollegen den Tipp bekommen hat, hier mal vorbeizuschauen.

Eine vierköpfige Familie ist für die Vorführung aus Lübbenau angereist, wo es kein Kino gibt. Nachher geht noch ein Zug zurück. Ludmila (40) ist im März 2022 mit ihren Kindern Anastasia (20) und Kiril (15) nach Deutschland gekommen, gleich nach Kriegsbeginn. Die drei wurden kurz bei einer Familie untergebracht und zogen dann ein Jahr lang von Heim zu Heim, bis sie in Lübbenau landeten.

Saal 3 hat etwas mehr als 400 Plätze.

Saal 3 hat etwas mehr als 400 Plätze.

Ihren Freund hat Ludmila beim Deutschkurs in Cottbus kennengelernt. Amin (40) aus Syrien, ein hübscher, lustiger Typ. Er arbeitet in der IT. Zuletzt waren die vier in den Sommerferien in Polen im Kino, haben „Die Wolf-Gäng“ gesehen.

Die 20-jährige Anastasia macht eine Ausbildung zur Grafikdesignerin und „träumt“ davon, nach Dresden oder Berlin zu ziehen. Sie teilt sich ein kleines Zimmer mit ihrem Bruder, der zur Schule geht. Über ihre Mutter sagt die junge Frau, diese sei „müde vom Deutschlernen“.

Ludmilla will Modedesignerin werden

Ludmilla hat das B1-Level geschafft. Sie will sich als Modedesignerin selbstständig machen. „Aber das ist kompliziert“, sagt sie. Amin ergänzt, dass die meisten ihre Klamotten leider bei Primark oder Temu kaufen. Die Eleganz des Mantels oder der Hose von Anastasia wird man dort umsonst suchen. Beides hat Ludmilla für ihre Tochter hergestellt. Fotografiert werden wollen die vier nicht. „Das wäre zu viel“, sagt Amin. Geht auch los. Der Saal ist voll. „Ya, pobyeda i Berlin“ („Ich, ein Pobeda und Berlin“) heißt der Film. Ein Roadmovie, das 2022 fertig wurde und 2024 ins Kino kam.

Es ist der vierte Film auf Ukrainisch, der in diesem Jahr hier läuft. Die Stimmung war jedes Mal „großartig, muss man ganz ehrlich sagen“, meint Kinochef Pesek auf dem Weg in den Saal. Von „Vaiana 2“ und den „Schlümpfen“ hat er „sehr viele glückliche Kinder“ in Erinnerung. Zuletzt sei es bei einer romantischen Komödie aus der Ukraine „etwas ruhiger“ zugegangen. Viele hätten sich danach bedankt für den Film in ihrer Muttersprache.

Die Eintrittspreise sind beim „Ukrajina Cinema“ etwas niedriger als im regulären Programm. Sie variieren je nach „Beschaffungskosten“ für den Film, erklärt Pesek, bevor er auf die Bühne vor der Leinwand hüpft und alle herzlich begrüßt. Er steht dort oben neben einigen der Ukrainerinnen, die die Reihe organisieren.

Kinochef André Pesek (l.) mit den Organisatorinnen der Reihe

Kinochef André Pesek (l.) mit den Organisatorinnen der Reihe

Vielfach sei ein Wunsch nach „kulinarischer Verbesserung“ geäußert worden, meint Pesek. Einverständiges Lachen im Saal. Der Kinochef verspricht, bald „besseres Popcorn“ anzubieten – das sei „nicht so einfach für uns“. Ein Insider, Aufklärung nach der Vorführung.

Der Werbeblock ist komplett ukrainisch: Online-Communitys, ein Essenslieferant, ein Postdienstleister. Der Hauptfilm spielt dann in den frühen 90ern. Er basiert auf einer Geschichte des ukrainischen Musikers Kuzma Skryabin (1968–2015). Der hat das alles mehr oder weniger so erlebt.

Kurz vor seinem ersten größeren Konzert will ein junger Musiker aus Lwiw einen Oldtimer nach Berlin überführen: den Pobeda, eine Schrottkarre aus Sowjetzeiten. Sie soll bei einem Sammler in Steglitz-Zehlendorf gegen einen gepflegten Mercedes 600 getauscht werden.

Beim deutschen Zoll ist der Spürhund ein Pitbull und heißt Matilda

Beim ukrainischen Zoll ist Schmiergeld Ehrensache, beim deutschen der Spürhund, ein Pitbull namens Matilda. Es wird viel gelacht im Kino. Als der Musiker in Berlin die touristischen Highlights bewundert, wird es ruhiger.

Es geht um die Pet Shop Boys und Depeche Mode. Und um Marihuana von der Krim, dem „Kolumbien der Ukraine“, wie es im Film heißt. Neukölln wird in unvorteilhaftem Licht gezeigt, ungefähr wie bei den Krawallmachern von der Boulevardpresse. Im Saal wird auch dazu gelacht.

So richtig wird der Held nicht warm mit der Stadt. „Fish out of the water“ heißen Filme mit Hauptfiguren in ungewohnten Umgebungen. Erinnert sich noch jemand an „Crocodile Dundee“? Am Ende ist der Musiker aus Lwiw jedenfalls froh, wieder nach Hause zurückzukommen. Zum Abspann gibt es im Kino warmen Applaus. Wie nach einer gelungenen Landung im Ferienflieger.

Armprothesen sind in Arbeit: Igor (27) aus Kiew, Sasha (43) aus Krementschuk und Wolodymyr aus Kiew

Armprothesen sind in Arbeit: Igor (27) aus Kiew, Sasha (43) aus Krementschuk und Wolodymyr aus Kiew

Es wird Heimatgefühle geben im Saal, aber niemand schwelgt hier groß in Sehnsucht nach einem Land, das es so nicht mehr gibt – der Blick geht nach vorn. Popcorneimer, Nachoschalen und Trinkbecher unter die Arme und raus in die Nacht.

Von den kriegsversehrten Soldaten, die den Film gesehen haben, scheint einer etwas ergriffener: Sasha (43) aus Krementschuk. Die Jahre seiner Kindheit seien an ihm „vorbeigezogen“, erklärt er. Seine Eltern hätten in den 90er-Jahren regelmäßig Waren aus Polen ins Land gebracht, er habe mitgeholfen.

„Heute gibt es Amazon“, sagt Wolodymyr aus Kiew, der neben ihm steht, und grinst. Beide haben im Krieg den rechten Arm verloren. In Deutschland bekommen sie Prothesen, auf die sie in der Ukraine lange hätten warten müssen. Wolodymyr wird seine demnächst in Rostock erhalten. Kurz zeigt er den Titanstift, der aus dem Stumpf ragt.

Der Wunsch nach Taurus und der Durst nach Rache

Die deutschen Medien sollten die Lieferung von Taurus in die Ukraine unterstützen, sagt Sasha, Wolodymyr nickt. Von diesen Waffen erhoffen sie sich mehr als von Donald Trump. Ihre Skepsis gegenüber dem Friedensstifter im Weißen Haus erklären sie damit, dass Autokraten zusammenhielten. Neuerdings würden ja nun auch kubanische Soldaten für Putin kämpfen, nicht nur nordkoreanische, sagt Wolodymyr. Bei Reuters habe er das gelesen.

Die Reihe „Ukrajina Cinema“ wird in Hohenschönhausen mit einem Horrorthriller zu Halloween fortgesetzt. „Die Hexe von Konotop“ (2024) spielt zu Zeiten des Ukrainekriegs. Ein Mann wird von russischen Soldaten ermordet. Seine Witwe greift auf uralte Magie zurück und nimmt Rache. Deutschlandpremiere in Saal 3.

Bleibt die Frage nach dem kulinarischen Verbesserungsbedarf. Was ist das Problem mit dem Popcorn? Viele Ukrainer wünschen sich Popcorn mit Käse, „mit doppelt Käse“ sogar. Sie haben das in Hohenschönhausen versuchsweise hergestellt, aber es hat nicht geschmeckt. Kinochef Pesek wird dranbleiben.