Antigone, „Arturo Ui“ und auch Klaus Manns Roman „Mephisto“ sind gerade hoch im Kurs in den Theatern. Spiegel der Versuche, auf der Bühne zu verhandeln, was auf die Menschen einprasselt. Luk Perceval, Jahrgang 1957, ist schon lange im Geschäft. Erst als Schauspieler, dann, begründet in der freien belgischen Theaterszene, als Regisseur der großen Fragen und großen Bilder. Vor allem die langen Shakespeare-Kompilationen, begonnen mit dem beinahe legendären Königsdramen-Marathon „Schlachten!“ (1999) von zwölf Stunden, haben ihn international bekannt gemacht. Er ist weit herumgekommen, auf Festivals, in der internationalen und vor allem der deutschsprachigen Theaterszene.

Der Kompass, mit dem er jetzt am Staatstheater Wiesbaden an Manns „Mephisto“ geht, ist derselbe geblieben. Perceval sagt es schlicht: Die Hoffnung des Theaters, dass man etwas sieht und sich als Zuschauerin, als Zuschauer fragt, ob man das wohl auch so machen würde – oder besser nicht. Das Theater als Anreiz, „mal über meine eigene Haltung nachzudenken“, das klingt sehr klein. Kann aber sehr groß sein.

Ungefähr so groß, wie Perceval im Gespann mit seinem Bühnen- und Videogestalter, dem Frankfurter Künstler Philip Bußmann, jetzt das Große Haus am Staatstheater Wiesbaden aufgesperrt hat. Bis zu den allerletzten schwarzen Mauern ist der Raum offen. Platz, um eine sehr ambivalente Hauptfigur dem Theater, den Gespenstern der Vergangenheit auszusetzen, und genug Platz für sehr realis­tische Fragen an eine satirische Parabel. Schon als Klaus Manns Roman „Me­phisto“ 1936 im Amsterdamer Exilverlag Querido erschien, wusste alle Welt, zumal die vor den Nationalsozialisten geflohenen Künstler, die Figuren zu entschlüsseln, und las Hendrik Höfgen als den Schauspieler, Regisseur und Intendanten Gustaf Gründgens (1899–1963). Erst 1980 erschien der Roman unangefochten in Westdeutschland.

Um Gustaf Gründgens geht es nicht

Um Gründgens geht es Perceval aber in seiner Textfassung nicht wirklich. Sondern um die Figur Höfgen, die er zu fassen versucht. „Was mich fasziniert, ist zu versuchen, zu verstehen, warum dieser Mann die Entscheidung getroffen hat, die er getroffen hatte“, sagt Perceval. Man könne sich über ihm lustig machen, als einen Komödianten, der die Welt zu seiner Bühne mache. „Aber inzwischen leben wir in ei­ner Zeit, wo wir nur mit solchen Typen konfrontiert werden.“ Perceval nennt Trump, Putin, Netanjahu, und will auf den Kon­trast hinaus. Politik sei heute manipulativer geworden, ein Einfluss sei kaum möglich. Wir lebten in einer Zeit, in der viele Menschen sich nicht gehört fühlten, sondern gedemütigt sähen, sich übergangen fühlten. Das führe vielfach in eine politische Gegenreaktion von Radikalität und Gewalt.

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Die Metapher von „Mephisto“ handle von jemanden, der in einem System glaube, das Richtige zu tun. Es erinnere ihn immer an das Meer, sagt der Sohn von Schiffern, das in kürzester Zeit zur Gefahr werden könne. Man werde überrollt von einer Energie, von Gewalt. Wie soll man als Mensch damit umgehen, möglichst überlegt? Vielleicht, sagt Perceval, gebe es keine Antwort. Das Theater gebe ja auch keine Antworten. Aber es sei ein Versuch zu verstehen. Er sei auf der Suche nach einem sinnlichen Theater, das Geheimnisse des Menschen erraten, erspüren lasse.

Eins zu eins brauche man solch eine Geschichte nicht auf die Bühne zu stellen, sagt Perceval. „Da kann man auch das Buch kaufen. Man braucht einen Konflikt für die Bühne, eine Notwendigkeit.“ Die hat er für seine Interpretation gefunden.

Glauben, unter Druck das Richtige zu tun

2018 hatte er am Schauspiel Frankfurt den grandiosen Abend „Mut und Gnade“ im Bockenheimer Depot inszeniert. Nun hat er sich selbst den „Mephisto“ ausgesucht für Wiesbaden und geht auf seine ganz eigene Weise an die Proben heran. Was nicht nur bedeutet, dass an seiner ersten Textfassung auf der Bühne gemeinsam weitergearbeitet wird. Sondern auch, dass er, wie fast immer, mit dem Choreographen Ted Stoffer zusammenarbeitet. Um zu verstehen, wie sich die aufgrund ihrer Herkunft und ihres Berufs gedemütigte Hauptfigur durchs Leben schlägt und in der Theaterbranche versucht, Karriere zu machen, braucht es eine Verbindung von Körper, Sprache und Bühne. Eine Verbindung, die Perceval mit der Plattform „The Naked Theatre“ geschaffen hat. Sie beruht auf gegenseitigem, gleichberechtigten Austausch internationaler Künstler und wird seit vielen Jahren auf besondere Weise herstellt: Er beginnt seine Proben stets mit einer Yogaeinheit. Den Einladungen folgten die meisten, sagt Perceval. Aus der eigenen Erfahrung von Überarbeitung ist Perceval vor vielen Jahren zu Yoga und Meditation gekommen. Die morgendliche Stunde führe dazu, ganz ankommen zu können, sagt Perceval – gut für die Seele, gut für die Arbeit. Ein „erleuchteter Yogi“ sei er aber nicht, stellt er klar, und er mache kein „Räucherstäbchentheater“.

Wie gut aber beides zusammengeht, hat er in Jahrzehnten festgestellt. Aufmerksam und durchlässig zu werden, trotz all der extremen Erfordernisse der Zeit und des Berufs, das dürfte auch jenseits der Bühnenberufe hilfreich sein. Wer mag, kann digital an Percevals Yogastunden teilnehmen, der Link findet sich unter lukperceval.info. Das Geld, das er mit den Spenden dafür sammelt, fließt in einen Workshop, der jeden Sommer in einem Retreat internationale Bühnenkünstler versammelt. Das ganze Jahr über gibt es das Angebot. Es heißt auf Deutsch „Die Stunde der Wahrheit“. Das klingt beinahe so wie Hendrik Höfgens Rückschau in Wiesbaden.

Mephisto, Staatstheater Wiesbaden, Premiere am 11. Oktober um 19.30 Uhr.