DruckenTeilen
Brüssel soll vor allem bei einer Frage für Klarheit sorgen: Dürfen einmal gefangene Waschbären wieder freigelassen werden?
Kassel – Mit der Sterilisation von Waschbären wird es in Kassel aller Voraussicht nach in diesem Jahr nichts mehr werden. Die Prüfung des Anfang August gestarteten und Mitte August nach einer Zuständigkeitsänderung der hessischen Landesregierung gestoppten Pilotprojekts zieht immer weitere Kreise.
Nachdem zunächst die vom Landesjagdverband eingeforderte Prüfung der Rechtmäßigkeit durch die Obere Naturschutzbehörde des Regierungspräsidiums Kassel (RP) angekündigt worden war, hat sich in der Angelegenheit inzwischen das Land an den Bund gewendet – und der Bund bittet nunmehr die Europäische Union (EU) um Klarstellung.
War nur zwei Wochen in Kassel möglich: das Aufstellen von Fallen, um Waschbären fangen und sterilisieren zu können. Das Foto zeigt Kristin Köbernik (links) und Jessica Eichling, Ehrenamtliche des Wildtierhilfen-Verbandes, im August am Auedamm. © Hermann, Andreas
Von Kassel über Wiesbaden und Berlin nach Brüssel: Mittlerweile sind damit vier politische Ebenen mit der Prüfung des von der Stadt Kassel unterstützten und genehmigten Pilotprojekts befasst. Bis zur Klarstellung durch die EU-Gremien werde es noch Monate dauern, befürchtet der Bundesverband der Wildtierhilfen, dessen Ehrenamtliche im August die ersten Waschbären in Kassel gefangen, sterilisiert und an dem Ort, an dem sie in die Falle gegangen waren, wieder ausgesetzt hatten.
Positive EU-Bescheide kamen schon 2017 und 2019
Um die Frage, ob einmal gefangene Waschbären wieder freigelassen werden dürfen, geht es vor allem bei der vom Hessischen Jagdverband angestrengten juristischen Prüfung. Seiner Einschätzung nach ist das Aussetzen invasiver Arten grundsätzlich verboten. Hingegen verweist der Wildtierhilfen-Bundesverband als Projektträger darauf, dass nach Artikel 19 der EU-Verordnung zu „Invasiven Arten“ bei weit verbreiteten Arten in einer Region – wie dem Waschbären in Kassel – die Umsetzung eines biologischen Managements festgeschrieben sei. Anfragen, ob gefangene und sterilisierte Tiere bei einer Maßnahme wie der in Kassel wieder ausgesetzt werden dürfen, seien von der EU bereits 2017 und 2019 positiv beschieden worden, betont Vera Heck, Geschäftsführerin des Wildtierhilfen-Bundesverbands. So würden auf dieser Grundlage in Italien seit über zehn Jahren die ebenfalls als invasive Art gelisteten Nutrias sterilisiert.
Mit Befremden hat auch die hessische Landestierschutzbeauftragte, die Tierärztin Dr. Madeleine Martin, darauf reagiert, wie – „wohl auf Druck der Jägerschaft“ – mit dem „zeitgemäßen wissenschaftlich fundierten“ Waschbären-Pilotprojekt in Kassel umgegangen wird. Für den Wildtierhilfen-Bundesverband sei die sich weiter hinziehende Zwangspause „eine Katastrophe“, meint Martin. Sie sei aber zuversichtlich, dass nach der rechtlichen Klärung das Projekt wieder aufgenommen werden kann. „Die EU hat bereits zweimal dazu Stellung bezogen. Ich wüsste nicht, warum sie ihre Meinung geändert haben sollte“, sagt die Landestierschutzbeauftragte.
Waschbären ab November in der Winterruhe
Nach Einschätzung des Bundesverbandes der Wildtierhilfen wird es noch Monate dauern, bis die geforderte Klarstellung der Europäischen Union (EU) nach Prüfung des Kasseler Waschbären-Pilotprojekts vorliegen wird. „Das eine Jahr ist leider verloren“, bedauert Geschäftsführerin Vera Heck, da die Tiere ab November in die Winterruhe gingen. Das Fangen und Sterilisieren sei erst wieder im Frühjahr ausschließlich bei den Rüden und erst wieder ab August auch bei den Fähen möglich.
Offiziell ist nicht darüber informiert worden, dass nun auch die Europäische Union (EU) in die Prüfung des Kasseler Waschbären-Pilotprojekts einbezogen ist. Doch wie aus Schreiben des Hessischen Ministeriums für Landwirtschaft und Umwelt, Weinbau, Forsten, Jagd und Heimat zu Bürgeranfragen hervorgeht, die sich nach der Fortsetzung des seit Mitte August pausierenden Projekts erkundigten, soll die EU Stellung beziehen. Europarechtlich sei derzeit nicht geklärt, ob das Projekt zulässig sei. „Diese Frage ist zwingend zu klären, bevor das Projekt weiter durchgeführt werden kann“, heißt es in dem der HNA vorliegenden Antwortschreiben.
Nach Aussage des Landesministeriums hat das Bundesministerium für Umwelt, Klimaschutz, Naturschutz und nukleare Sicherheit intensiven Beratungsbedarf gesehen und eine Klärung der Rechtsfrage auf EU-Ebene empfohlen. „Der Sachverhalt wurde umgehend in den zuständigen Gremien platziert und wir drängen auf eine zeitnahe Beantwortung unter Einschluss der EU-Kommission“, teilte das Landesministerium auf die Anfragen mit.
Klar ist damit für den Bundesverband der Wildtierhilfen, der das Pilotprojekt in Kassel trägt und finanziert, dass die ersehnte Fortführung der Maßnahme noch lange nicht möglich sein wird. Die EU solle Stellung beziehen. Dabei habe sie bereits 2017 und 2019 Anfragen positiv beschieden, dass bei Management-Maßnahmen eine Sterilisation in den rechtlichen Rahmen des Artikel 19 der EU-Verordnung für invasive Arten passe, erklärte Bundesverbands-Geschäftsführerin Vera Heck. „Für uns und für die Bürger in Kassel heißt es so leider weiter warten und ein Jahr Zeitverlust, um die Waschbären in der Stadt zu reduzieren.“ Zum Glück müsse man während der Zwangspause nicht die Kosten für das bei Kassel angemietete Haus tragen, so Heck. „Der Vermieter ist sehr kulant gewesen und uns entgegenkommen.“ Laufe das Projekt wieder an, könnten die Ehrenamtlichen schnell wieder in das Haus zurück.
Heck stellte klar, dass das Pilotprojekt in Kassel wie ursprünglich geplant insgesamt drei Jahren laufen wird. Und zwar drei Jahre nach Ende der Zwangspause. Sie gehe davon aus, dass die EU das Fangen, Sterilisieren und Freilassen der Waschbären im Rahmen der biologischen Management-Maßnahme wieder erlauben werde. „Wenn dem nicht entsprochen wird, müssen wir leider den Klageweg gehen“, kündigt die Geschäftsführerin an.
„Ich bin optimistisch, dass die Stellungnahme der EU nicht anders ausfällt als 2017 und 2019“, sagt auch Tierärztin Dr. Madeleine Martin, die Tierschutzbeauftragte des Landes Hessen. Ihr Amt ist eine selbständige Organisationseinheit außerhalb der Abteilungsstruktur im Hessischen Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt, Weinbau, Forsten, Jagd und Heimat. Sie arbeitet frei von fachlichen Weisungen. Man müsse die rechtliche Klärung nun einfach abwarten, so Martin. Die EU sehe für invasive Tierarten, die in einer Region heimisch geworden sind, ausdrücklich die Tötung nicht als alleinige Management-Maßnahme, sondern fordere die Mitgliedsstaaten daneben zu anderen Vorgehensweisen auf. Maßnahmen zur Unfruchtbarmachung hätten sich bei der Reduktion von Populationen verschiedener wildlebender oder verwilderter Arten (etwa Katzen, Tauben und Nutrias) wissenschaftlich gesichert als zielführend erwiesen und würden in anderen EU-Ländern erfolgreich genutzt. „Ich kann schwer verstehen, dass man dieses Waschbären-Pilotprojekt in Kassel nicht haben will“, sagte die Landestierschutzbeauftragte. Stelle sich die Sterilisation als nicht zielführend heraus, habe sich die Diskussion darum erledigt. Erweise sie sich aber als hilfreich, wäre dies auch für viele andere Regionen wichtig.
Anders sieht das der Hessische Landesjagdverband, der die juristische Prüfung eingefordert hatte und damit das Projekt vorerst gestoppt hat. In der Septemberausgabe der Monatszeitschrift „Jagd in Hessen“ widmet sich Präsident Jürgen Ellenberger in der Rubrik „Wort zur Sache“ ausführlich dem Pilotprojekt und bezieht sich dabei auch auf die HNA-Berichterstattung über die ersten in Kassel gefangenen, sterilisierten und wieder freigelassenen Waschbären. „Nach EU-Recht ist der Waschbär eine invasive Art, die zurückgedrängt werden muss. Das Aussetzen invasiver Arten ist grundsätzlich verboten“, schreibt Ellenberger. Es sei nicht akzeptabel, „dass ohne Genehmigungen und ohne wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis chirurgische Eingriffe an Wildtieren vorgenommen und diese anschließend wieder ausgesetzt werden“.
(Andreas Hermann)