Am Sonntag steht der Volksentscheid für ein schärferes Klimagesetz in Hamburg an. Luisa Neubauer von „Fridays for Future“ gehört zu den bekanntesten Aktiven der Initiative, die den „Zukunftsentscheid“ erzwungen hat. Sie trifft auf einen fast gänzlich schweigenden Senat.

Selten zuvor dürfte der Aktualisierungs-Button auf der Internetseite des Hamburger Landeswahlleiters Oliver Rudolf so häufig gedrückt worden sein wie in der zurückliegenden Woche. Zum Beispiel in der Hamburger Senatskanzlei. Oder in den Führungsetagen großer Wirtschaftsverbände und bei Wohnungsbauunternehmen. Und natürlich auch in den Räumen jener Initiative, die den Stadtstaat Hamburg dazu bringen will, fünf Jahre früher als geplant, also spätestens 2040 statt 2045, klimaneutral zu werden, um der Welt ein gutes Beispiel zu geben.

Alle – Befürworter wie Gegner dieses Ziels – wollten nun wissen, wie sich die Zahl der Briefwahleingänge erhöht, denn eines ist klar: Wenn am Sonntagabend von 18 Uhr an die eingegangenen Stimmen ausgezählt werden, dürfte es gleich in mehrerlei Hinsicht knapp werden. Und am Ende vielleicht sogar für die rot-grüne Koalition selbst.

Nachdem die Debatte um dieses Vorhaben – das manche ambitioniert, aber zielführend und andere gefährlich und wirtschaftsfeindlich nennen – zunächst nur mühsam aus dem Sommer kam, hat sie zuletzt deutlich an Fahrt aufgenommen. Sportvertreter wie Segler Boris Herrmann oder die Führung des FC St. Pauli, Schauspieler wie Pheline Roggan oder Merlin Sandmeyer, Wissenschaftler wie Jochem Marotzke und Claudia Kemfert und natürlich die Klimaprominenz um Luisa Neubauer unterstützen die Initiative in der Öffentlichkeit.

Es geht um viel für Hamburg

Industrie- und Wirtschaftsverbände warnen hingegen im Tagesrhythmus vor den drastischen Folgen einer übereilten Umsetzung. Im Wohnungssektor streiten sich die Wohnungsunternehmen mit dem Mieterverein über steigende Kosten durch eilig vorgezogene Sanierungen. So gesehen eine klassische Wahlauseinandersetzung wie aus dem Demokratie-Lehrbuch. 

Es geht dabei jedenfalls um viel für Hamburg; diverse Maßnahmen, auch im Verkehrsbereich, müssten mit der Brechstange umgesetzt werden. Verbote, Kontrollen, Monitoring – der Werkzeugkasten der Klimabewegung und auch der Grünen würde weit geöffnet werden, und die Umsetzung obliegt dann der SPD als größere Regierungspartei, deren Führung das aber gar nicht will. Volksentscheide sind in Hamburg verbindlich umzusetzen. Geht es, wie im Fall des Zukunftsentscheids um ein Gesetz, tritt es nach dem Erfolg der Initiative automatisch in Kraft.

Ist das allen politisch Beteiligten so bewusst und handeln sie entsprechend in der Öffentlichkeit? „Also, ich bin mir nicht sicher, ob man es in der kurzen Zeit bis zum 12. Oktober schafft, die Meinungsbildung so differenziert zu betreiben, dass die Menschen das Gefühl haben, alle Informationen zu haben“, äußerte Andreas Breitner, Direktor des Verbands Norddeutscher Wohnungsunternehmen und frühzeitiger sowie strikter Gegner des Initiativenziels, seine Zweifel, die sich wohl auch auf die Kommunikationsstrategie des Senats mit Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) an der Spitze bezogen.

Er deutet damit an, was viele Wirtschaftsvertreter in Gesprächen auch sagen: Die Sozialdemokraten haben das Thema verpennt, als Weichenstellungen noch besser möglich waren. In dieses Kommunikationsvakuum hinein hat die Initiative gepunktet und schickt sich nun an, die Rathauspolitik über die Wahlurne in dieser wichtigen Frage zu entmachten. Lange hatte man in der Senatskanzlei wohl darauf gehofft, dass das Thema schon nicht so groß werden würde und die nötigen Quoren für eine Zustimmung nicht erreicht werden.

Senat wollte sich an Neutralitätsgebot halten

Zurückhaltung verordnete sich das Regierungsteam aber auch aus einem anderen Grund. Denn nach Prüfung der Rechtslage und entsprechender Urteile kam man zu dem Schluss, dass sich der Senat an ein Neutralitätsgebot zu halten habe – und das selbst dann, wenn eine Initiative ein Vorhaben durchsetzen will, das maßgeblich gegen die eigene Politik und den Koalitionsvertrag ausgerichtet ist.

Wer Bürgermeister Tschentscher in der Coronazeit erlebt hat, der weiß: Wenn es um Regeln und deren punktgenaue Anwendung geht, kommt bei ihm schnell der im Reinraum ausgebildete Laborarzt durch. Nichts darf die Probe gefährden, schon gar nicht das Verhalten des Senats.

Und so kam es in seinem Umfeld in den vergangenen Wochen zu bemerkenswerten Neuorientierungen. Zunächst wagte sich Finanzsenator Andreas Dressel aus der Deckung und wies auf die hohen Kosten und die schwierige bis unmögliche Umsetzung des verbindlichen Vorziehens der Klimaziele hin – er tat das aber nicht kraft seines Amtes, sondern wahlweise als „Bürger“ Dressel oder als SPD-Kreisvorsitzender.

Und erst sechs Tage vor der Abstimmung fand sich der Name der Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard (SPD) unter einer Erklärung, in der sich auch CDU und FDP gegen die Initiative stellten. Leonhard unterschrieb als SPD-Landesvorsitzende, und das zu einem Zeitpunkt, als schon mehr als 300.000 Briefwahl-Stimmzettel eingegangen waren.

Late on the Party

Late on the Party sagen die Engländer zu so einem Verhalten. Niemals angekommen auf dieser Party ist Tschentscher selbst. Kein öffentlicher Auftritt, keine Videobotschaft, Interviews gibt der Bürgermeister wegen des damit verbundenen Aufwands ohnehin nicht mehr so gern. Auch bei der Bürgerschaftsdebatte zu dem Thema am Mittwoch schwieg der bald 60-Jährige. Umweltsenatorin Katharina Fegebank durfte sprechen, und es war spannend zu sehen, wie sie versuchte, in feinster Roncalli-Zirkusmanier einerseits die grüne Basis nicht zu verprellen, andererseits die Senatsräson nicht zu gefährden. Ein Sieg der Klimaaktivisten wäre jedenfalls auch ein herber Schlag für das Binnenverhältnis im Koalitionslager.

Zurück zu Tschentscher: Interessierte Hamburger konnten seine Einschätzung – er ist natürlich gegen das Vorziehen der Klimaziele – aus einem Artikel des „Hamburger Abendblatts“ herausdestillieren, in dem viel anonymisiert aus seinem Umfeld zitiert wurde. Entstanden war der Artikel am Rande einer von Tschentscher geführten und von der Landespolitik-Redakteurin begleiteten Nordamerika-Reise, entsprechendes „Umfeld“ war also reichlich vorhanden.

Ob Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) oder Schleswig-Holsteins Pendant Daniel Günther (CDU) wohl ebenso viel selbstgeißelnde Zurückhaltung geübt hätten, wenn es um eine zentrale politische Zukunftsfrage geht? Frühere Hamburger Regenten haben die Sorge, im Falle einer Klage mit einiger zeitlicher Verzögerung ein rüffelndes Urteil eines Verfassungsrichters zu kassieren, jedenfalls nicht im gleichen Ausmaß geteilt.

Olaf Scholz ging in die Offensive

Als Olaf Scholz 2013 Erster Bürgermeister war, hielt er sich nicht zurück: Im Vorfeld des Volksentscheids „Unser Hamburg – Unser Netz“ bezog er klar Position gegen die vollständige Rekommunalisierung der Energienetze. Scholz warb offensiv für das SPD-Modell einer 25,1-Prozent-Beteiligung und warnte vor „unabsehbaren finanziellen Risiken“ eines Komplettkaufs. In einem Interview erklärte er: „Wir würden bei hundert Prozent das komplette unternehmerische Risiko tragen – und bei der Energiewende keinen Schritt weiter kommen.“

Schon zuvor hatte Scholz den Plan der Initiative als „nicht bezahlbar“ bezeichnet, und Gespräche mit den Initiatoren – nicht nur persönlich, sondern auch seitens der SPD – abgelehnt. Der Senat unterstützte zudem wenig verhohlen die Kampagne „Nein zum Netzkauf“, gemeinsam mit SPD, CDU und der Handelskammer. Ein bemerkenswerter Kontrast zu Peter Tschentscher.

Ole von Beust startete große Kampagne

Als Hamburg 2010 über die Schulreform abstimmte, fuhr der schwarz-grüne Senat sogar eine groß angelegte Informationskampagne. Unter dem Motto „Mit allen an die Spitze“ ließ die Schulbehörde Broschüren verteilen, schaltete Anzeigen und plakatierte in der gesamten Stadt. Allein die Plakatkampagne schlug mit rund 200.000 Euro zu Buche. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) verteidigte die Reform zudem stets offensiv.

Kritik daran und vor allem an der behördlich finanzierten Kampagne Kritik wies er zurück. Zum Vorwurf der Initiative „Wir wollen lernen!“, der Senat müsse sich im Volksentscheid neutral verhalten, sagte der Christdemokrat: Die Regierung habe eine Informationspflicht und dürfe ihre Position vertreten – maßgeblich sei die Sachlichkeit der Darstellung.

Zwar gab es seitdem einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Neutralitätspflicht von staatlichen Amtsträgern. Aber zusätzlich eingeschränkt wurde dadurch im Vergleich zu 2010 im Wesentlichen nur, dass Regierungsmitglieder nicht aus ihrem Etat heraus Werbung für ihre eigene Partei oder gegen opponierende Meinungen machen dürfen – vor allem nicht vor Wahlentscheidungen.

Im Streit um die Schulreform formulierte es der frühere Verfassungsrichter und Hamburger Justizsenator Wolfgang Hoffman-Riem im NDR so: „Es geht um einen Volksentscheid, der auch ein Gesetz, das schon verabschiedet ist, zum Gegenstand hat. Die Regierung, hier der Senat, muss selbstverständlich in der Lage sein, diesen zu verteidigen.“

Und es gibt in Hamburg ein Klimaschutzgesetz, zuletzt geändert am 1. Januar 2024. Sollte die Initiative die Abstimmung gewinnen, würde das von ihr vorgeschlagene Klimaschutzverbesserungsgesetz als beschlossen gelten und spätestens einen Monat nach dem offiziellen Feststellen des Abstimmungsergebnisses in Kraft treten. Das Quorum liegt bei 262.000 Ja-Stimmen. Bis Freitag lagen bereits 408.000 Briefwahlstimmen vor, das ist viel – und ein Hinweis darauf, wie groß die Spannung ist, wenn ab 18 Uhr die Auszählung beginnt.

Jörn Lauterbach ist Redaktionsleiter Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Redakteurin Julia Witte genannt Vedder berichtet seit 2011 über Hamburger Politik.