Wolf Jobst Siedler war seiner Zeit voraus. In einem Beitrag für die F.A.Z., der am 8. September 1990 veröffentlicht wurde, kritisierte er den geschichtsvergessenen Umgang mit Straßennamen in Berlin. „Aber hat man 1945 nicht zwei der traditionsreichsten Straßen der klassischen Epoche Berlins, die Tiergartenalleen Unter den Zelten und Hofjägerallee, ebenfalls umbenannt in John-Foster-Dulles-Allee und Klingelhöferallee?“ Der Kenner der Berliner Architekturgeschichte und beherzte Verteidiger von Putten, Stuck und anderem gründerzeitlichen Stadtmobiliar hatte sich vordergründig getäuscht; beide Straßennamen, teilweise nicht ganz richtig wiedergegeben, gab es damals noch, doch sollte sich der vermeintliche Irrtum als Prophetie erweisen, die in diesem Jahr endgültig in Erfüllung zu gehen scheint.
Die John-Foster-Dulles-Allee, deren einziger Anlieger das Haus der Kulturen der Welt in der 1957 mit amerikanischem Geld erbauten Kongresshalle ist, war 1959 nach dem im selben Jahr verstorbenen amerikanischen Außenminister benannt worden, vielleicht etwas zu schnell. Zuvor hieß sie seit 1832 Zeltenallee, nach den Bier- und Weinzelten im Spreebogen, die ein beliebtes Ausflugsziel waren. Die benachbarte und ebenfalls 1832 benannte, seit 1945 weitgehend unbewohnte Straße In den Zelten stand noch lange nach 1990 auf Straßenschildern, wurde aber überbaut und 2002 endgültig eingezogen; heute steht dort das Bundeskanzleramt, eine architektonische Hinterlassenschaft von Helmut Kohl, auch wenn der 1998 abgewählte Bundeskanzler nie dort einziehen durfte.
Das östliche Jagdrevier
Die Hofjägerallee verwechselte Siedler mit ihrer südlichen Verlängerung; diese hieß von 1874 bis 1961 Friedrich-Wilhelm-Straße, nach dem beliebten preußischen Kronprinzen, der dann 99 Tage der sterbenskranke Kaiser Friedrich III. war. Da an Friedrichs und Wilhelms im Berliner Schilderwald kein Mangel bestand, war die Umbenennung nach dem kurz zuvor verstorbenen sozialdemokratischen Politiker Gustav Klingelhöfer, einem Weggefährten Ernst Reuters und erstem Wirtschaftssenator von Berlin, noch zu verschmerzen. Und zudem eine 1961 unvorhersehbare Pointe, denn Klingelhöferstraße 8 ist seit 2000 die offizielle Anschrift der Konrad-Adenauer-Haus genannten Bundesgeschäftsstelle der CDU. Jetzt wird die Hofjägerallee tatsächlich umbenannt. Der ungewöhnliche Name erinnert seit 1832 an die Dienstwohnung des Hofjägers und damit das kurfürstlich-königliche Jagdrevier im Osten des früher viel größeren Grunewalds, aus dem dann der Große Tiergarten wurde. Der Berliner Senat hat angekündigt, dass die Straße zum 35. Jahrestag der Wiedervereinigung in Helmut-Kohl-Allee umbenannt wird.
Die Völker der Welt schauen auf diese Stadt, um sich über den Stand der deutschen Geschichtspolitik zu informieren. 1968 meldete die „New York Times“ die Rückbenennung des Adenauerdamms in Kaiserdamm.The New York Times Company
Der Regierende Bürgermeister von Berlin Kai Wegner, der sich 1990 erste politische Sporen in der Berliner Schüler-Union verdiente, hält in diesem Fall, was er verspricht; die Benennung einer Straße nach Helmut Kohl steht seit 2023 im Koalitionsvertrag des von ihm geführten Senats. Dieser scheint offensichtlich Sinn für Humor zu haben. Wie Helmut Kohls Planung eher unbeabsichtigt eine ganze historische Straße beseitigte, so ersetzt nun der Name des zweifelsohne verdienten und straßennamenwürdigen Kanzlers, der lange für sein Interesse an Berlin belächelt wurde, den nächsten historischen Straßennamen – wie von Siedler vorausschauend beklagt.
Spötter mögen vermuten, Christdemokrat Wegner habe die Nähe der Zentrale seiner Partei im Auge; in Bonn befand sich das 2003 abgerissene erste Konrad-Adenauer-Haus von 1971 in der Friedrich-Ebert-Allee. Mit der Würdigung von Bundeskanzlern hat Berlin kein Glück; 1967 war unmittelbar nach dem Tod des ersten Kanzlers der Kaiserdamm im Bezirk Charlottenburg einschließlich eines U-Bahnhofs in Adenauerdamm umbenannt worden. Dagegen formierte sich unerwarteter und bis dahin in diesem Ausmaß unbekannter Protest nicht nur der allerdings zahlreichen Anlieger; nach nicht einmal neun Monaten kehrte 1968 der alte Straßenname zurück.
Bei der Hofjägerallee kann so etwas nicht passieren; die Straße, im Wesentlichen eine Zufahrtsstraße auf den von Albert Speer gestalteten Großen Stern mit der Siegessäule, hat keine Anwohner. Die „große Straße für einen großen Mann“ (Kai Wegner) erweist sich so als Weg des geringsten Widerstandes; politische Bequemlichkeit bewirkt historischen Kollateralschaden. Ein besseres Gleichnis für Stadtplanung in der von ihm so benannten „geschundenen Metropole“ Berlin hätte sich Siedler kaum ausdenken können.