Gastkommentar
Leander Scholz
Die Idee, dass ein Volk gar nicht genug Raum haben könne, entstammt dem 19. Jahrhundert und dem Faktum, dass die industrielle Revolution Wachstum ohne Ende verhiess. Lange stand die Geopolitik im Zeichen dieser Ausdehnung. Mittlerweile aber ist Schrumpfung angesagt.
Am Ziel der Träume angekommen: Eine kleine Familie blickt in New York vom Immigranten-Kontrollpunkt Ellis Island aus auf die Freiheitsstatue, um 1930.
Getty
Vor knapp 150 Jahren erlebte Deutschland eine letzte grosse Welle der Auswanderung. Noch einmal verliessen zahlreiche Familien für immer ihre Heimat, um zumeist in Nordamerika eine bessere Zukunft zu finden. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 waren es neben politischen Gründen überwiegend wirtschaftliche Motive, die viele Verzweifelte zu diesem Schritt bewogen. Nicht nur in den Städten hatte sich mit der drastischen Zunahme der Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte auch das Elend ausgebreitet. Selbst auf dem Land konnten viele Familien kaum noch ihren Lebensunterhalt bestreiten.
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Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verliessen über 50 Millionen Menschen den europäischen Kontinent, ein grosser Teil von ihnen stammte aus Deutschland. Die dritte Welle der Auswanderung nach Übersee begann zehn Jahre nach der Reichsgründung von 1871, eine enorme Herausforderung für den jungen Nationalstaat. Sie ebbte erst ab, als das industrielle Wachstum mit dem demografischen Schritt halten konnte.
Zuwanderung nach Bedarf
Heute zählt Deutschland nach den USA zu den weltweit grössten Einwanderungsländern. Laut dem Statistischen Bundesamt leben inzwischen rund 25 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik. Von ihnen sind über 12 Millionen ausländische Staatsangehörige. Auch wenn sich Deutschland erst seit dem Ende der neunziger Jahre als Einwanderungsland begreift, begann seine Einwanderungsgeschichte bereits mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte wenige Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik.
Das absehbare Ende des Wachstums der Weltbevölkerung wird die zukünftige Raumpolitik von Grund auf verändern.
Wie andere europäische Länder auch setzte Deutschland in den Jahrzehnten des Aufschwungs auf eine Zuwanderung nach Bedarf. Nach der Wiedervereinigung wurde die Einwanderung dagegen hauptsächlich durch Fluchtmigration geprägt. Neben humanitären Verpflichtungen gehörte aber auch die Überalterung der einheimischen Bevölkerung zu den Gründen, die für eine fortgesetzte Einwanderung sprachen. Denn unter den Bedingungen eines demografischen Abschwungs wurde es zunehmend schwieriger, die deutschen Sozialsysteme zu unterhalten, deren Prinzipien noch aus dem Jahrhundert des Bevölkerungswachstums stammen.
Als Deutschland noch nicht zu den Ländern mit den niedrigsten Geburtenraten und den höchsten Einwanderungszahlen gehörte, sondern im Gegenteil mit den massiven Folgen einer Übervölkerung zu kämpfen hatte, formulierte der Zoologe und Geograf Friedrich Ratzel seine «Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten», die im 20. Jahrhundert zur Grundlage der modernen Geopolitik werden sollten.
In mehreren Büchern über den Zusammenhang zwischen Territorium und Bevölkerung beschrieb er den Antrieb moderner Staaten zum Wachstum, der eine ungeheure Expansion, von Europa ausgehend, in Gang gesetzt hatte. Selbstverständlich war die Geschichte auch in den Jahrhunderten davor bereits durch Raubzüge, Eroberungskriege und die Entstehung grosser Imperien geprägt. Aber das Neue bestand für Ratzel in der Ausbreitung der Menschen über den gesamten Planeten, ausgelöst durch eine forcierte Industrialisierung unter dem Druck einer wachsenden Weltbevölkerung und der zunehmenden Konkurrenz um die dafür nötigen Ressourcen.
Diese Faktoren bestimmen auch heute noch die Aufteilung der Welt, deren Neuordnung wir zurzeit erleben. In deren Zentrum steht allerdings weder Europa noch Amerika, sondern China mit seinen enormen Wachstumsraten in den letzten Jahrzehnten. Schon in den geopolitischen Debatten am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Land mit seiner ungeheuer grossen Bevölkerung als «gelbe Gefahr» wahrgenommen. Sollte das Riesenreich eines Tages aufwachen und aufholen, wäre seinem weltpolitischen Anspruch kaum etwas entgegenzusetzen.
Die lange ersehnte Fackel der Freiheit: Europäische Auswanderer treffen in den USA ein, 1887.
Getty
«Kampf um Raum»
Im Unterschied zu anderen Weltteilen ist China einer umfassenden Kolonisierung durch die Europäer entgangen. Ab Anfang der achtziger Jahre gelang es dem Land, durch eine rigide Geburtenkontrolle den demografischen Zuwachs mit seinem Wirtschaftswachstum in Einklang zu bringen. Heute übt China nicht nur weltweit massiven Einfluss auf zahlreiche Handelsrouten zu Wasser und zu Land aus, sondern hat sich auch durch strategische Investitionen auf beinahe allen Kontinenten abhängige Verbündete geschaffen und wird in absehbarer Zukunft die grösste Militärmacht der Welt sein.
Geboren 1844 und seit 1886 Inhaber des Lehrstuhls für Geografie an der Universität Leipzig, hatte Ratzel bei der Ausformulierung seiner Geopolitik nicht China vor Augen, sondern den Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika. Dabei bekümmerte ihn weniger, dass so viele Deutsche sich gezwungen sahen, ihr Glück in der Neuen Welt zu suchen, als dass die Auswanderer, sobald sie dort angekommen waren, ihr Heimatland mehr und mehr vergassen. Nicht die dramatische Übervölkerung war das eigentliche Problem für ihn, sondern dass sich diese «völkerzeugende Kraft» irgendwo in der Ferne verlor.
Ratzel hatte nicht nur Geografie studiert, sondern auch Zoologie und war vertraut mit den neuesten Erkenntnissen der Evolutionsbiologie. Die übertrug er auf die kommenden Konflikte zwischen den neuen Grossmächten. Wie die Populationen im Tierreich und in der Pflanzenwelt hätten auch die Völker keinen festen Platz auf der Erde, sondern breiteten sich aus, bis ihnen Grenzen durch andere Völker gesetzt würden. Von allen Konkurrenzen zwischen den Lebewesen hielt Ratzel daher den «Kampf um Raum» für die entscheidende.
Nicht nur in der Evolutionsbiologie war die Fortpflanzung ein überragendes Thema im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, sondern auch in der Weltpolitik. Da Deutschland im Unterschied zu anderen europäischen Ländern keine Kolonien besass und auf Amerika kaum politischen Einfluss hatte, engagierte sich Ratzel für eine deutsche Kolonialpolitik mit Blick auf Afrika.
Als Anhänger der Nationalliberalen Partei, die lange die stärkste Fraktion im Reichstag bildete, versuchte er, den Reichskanzler Otto von Bismarck davon zu überzeugen, dass sich die massive Auswanderung nur auf diese Weise in einen Vorteil ummünzen liess. Während die deutschen Emigranten in den USA zur Entstehung einer neuen Weltmacht beitrügen, würden sie in den zukünftigen Kolonien dem Mutterland verbunden bleiben. Weil Wanderung, Ausbreitung und Verdrängung bei den Menschen wie bei anderen Lebewesen auch keine Ausnahmen bildeten, sollte die Aufgabe der Politik darin bestehen, die Ströme zu steuern. Die moderne Geopolitik, die sich Ende des 19. Jahrhunderts formiert hat, war von Anfang an auch Bevölkerungspolitik.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben alle Grossmächte ihre Bevölkerungen zum Gegenstand politischer Massnahmen gemacht, nicht zuletzt im Hinblick auf ihre weltpolitische Konkurrenz. Die USA entwickelten eine Einwanderungspolitik, die nicht nur nach individuellen Merkmalen auswählte, sondern auch Quoten für die Herkunftsländer festlegte. So sollte sichergestellt werden, dass bei stetiger Zunahme der Bevölkerung dennoch die bisherige Mischung erhalten blieb. Vor allem die Immigration aus Asien wurde stark eingeschränkt, während nordeuropäische Länder bevorzugt wurden.
Das «Dritte Reich», das sich bereits früh in Konkurrenz zur amerikanischen Vitalität sah, verfolgte nicht nur die Vorstellung eines nach «Rassenwerten» geordneten Kontinents, sondern auch den eugenischen Wahn einer «Rassenhygiene», der Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Auch die Sowjetunion setzte auf eine vermeintliche Stärkung des «Volkskörpers» durch die Deportation ganzer Volksgruppen und die Steigerung der Fruchtbarkeit im Sozialismus.
Bisher grösste Dynamik
Auch in der Geopolitik der Nachkriegszeit spielte das Wachstum der Bevölkerung noch eine wichtige Rolle, allerdings überwiegend beschränkt auf wirtschaftliche Aspekte. Das amerikanische Einwanderungsrecht wurde 1965 liberalisiert und vorrangig auf Flüchtlinge und Fachkräfte ausgerichtet. Im gleichen Jahrzehnt entwickelte das Wachstum der Weltbevölkerung seine bislang grösste Dynamik. Auch heute nimmt die absolute Zahl immer noch zu, aber längst nicht mehr exponentiell. Viele Regionen und Nationen haben inzwischen mit einem demografischen Schwund zu kämpfen.
Zu den Ländern mit sehr niedrigen Geburtenraten zählen nicht nur viele europäische, sondern auch Russland, aber vor allem China. Das Riesenreich hat seine demografische Bewährungsprobe noch vor sich. In vielen westlichen Ländern hat der Umstand, dass die Geburtenrate von Einwanderern meist höher ist als die der Einheimischen, inzwischen zu einem Gefühl der Verdrängung geführt. Das hat die Skepsis gegenüber einer Lösung der demografischen Probleme durch Einwanderung erhöht.
Als Ratzel seine Gesetze des Wachstums formulierte, ging er davon aus, dass der globale Raum angesichts der zunehmenden Menge an Menschen und ihrer unaufhaltsamen Ausbreitung sehr bald knapp werden würde. Im weltweiten Wettbewerb um Nahrung und Ressourcen würden sich daher nur Völker behaupten können, die raumgreifend seien. Wer nicht wachse, werde von anderen verdrängt.
Aber das absehbare Ende des Wachstums der Weltbevölkerung wird auch die zukünftige Raumpolitik von Grund auf verändern. Nicht ohne Grund rückt derzeit nach dem Höhepunkt der Globalisierung wieder die Frage nach strategischer Autonomie in den Vordergrund der politischen Debatten. Im Vorteil wird dabei sein, wer am besten mit dem demografischen Abschwung zurechtkommt. Von den Industrieländern hat Japan schon eine längere Phase der Überalterung hinter sich und gehört zu den wenigen Ländern, die anstelle von Einwanderung auf Effizienz setzen. Es ist noch keineswegs ausgemacht, welche neue Geopolitik eine weniger bevölkerte Erde hervorbringen wird.
Leander Scholz ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Berlin.
Detlev Piecha
vor 36 Minuten1 Empfehlung
Holte mir zum Thema nach langer Zeit mal wieder den seinerzeit vielgelesenen, beim Autor ungenannten Roman von Hans Grimm
„Volk ohne Raum“ (1926)
aus dem Regal – stand nicht weit neben Hitlers „Mein Kampf“ – und las mit neuem Erschrecken kursiv an meinen jahrzehntealten Anstreichungen vorbei dort hinein.
„Ein Roman, nicht sosehr des deutschen Lebens als des deutschen Schicksals, steht hier da.“
hieß damals und der später hochberühmte Germanist Emil Staiger würdigte den Roman mit
„Deutschland aus dem Schlaf erwecken“
in einer Vorlesung an der Universität Zürich.
Aus dem Roman klingt einem ein fatal völkisch-faschistoider „Grundton“ entgegen, den man von der AfD in der letzten Zeit als nationalen „Glockenschall“ zu hören gewohnt ist.
Japan hat eine ähnlich große Fläche wie DE und eine ähnliche große (am BIP gemessene) Wirtschaftskraft, aber dieses auch mit 250 % BIP erkauft. Seine Bevölkerung ist immernoch um ca. die Hälfte größer als die unsere (123,4Mio) und auch wenn Einzelne unauffällig sehr wohlhabend sein mögen, sind viele sehr, sehr arm – man liest immer auch von Rentnerinnen, die im Laden was mopsen um über den Winter im Gefängnis zu bleiben. Es ist interessant, in Japan ein künftiges Deutschland sehen zu wollen, aber wir sind ein Staat der EU und das macht den Unterschied. Ich fände es interessanter, eine Staatenbündnis wie unseres auf Japan etc. – vielleicht Kanada, Brasilien etc. – auszuweiten. Die Vielen werden sowieso im gewaltigen Großstädten (in der Region Tokyo leben 37Mio, die Dichte in der Stadt selbst beträgt 15.351 Ew./km²) zusammenkommen. Diese ganze biologistische „Idee“, ein „Volk“ suchte und fände sich irgendwo „Raum“ existiert nichtmal im Tierreich und falls ein Hobbybiologe da Analogien fände, wir sind keine Tiere, keine Viren, keine Insekten oder Mikroben. Viele Menschen bevorzugen es, sich gemeinsam mit anderen vielen Menschen in prächtige Städte von großer Dichte ( NYC hat ca. 28.000 Ew./km²) aufzuhalten. Zumindest für die Arbeit und die Freizeit, aber manche äußerst wohlhabende auch mit Kindern. Ist ein Lifestyle. Den kann man sich in NYC, London oder Tokyo ganz gut abgucken: Die Menschen im Dichtestess haben tolle Verhaltensweisen erlernt, Höflichkeit, Toleranz, auch – meine persönliche Theorie und Beobachtung – eine gewisse positive Segregation sowohl in Stadtviertel, familiäre Strukturen wie auch im Park oder auf der Party. Das verlangt nach äußerster kultureller Sensibilität und Kompetenz. Der „Raum“ kann beliebig verengt und vertikal sein, erkennt jeder seine Rolle und Position darin.