In der EU müssen Winzer neu deklarieren, wie viele Kalorien ihr Wein enthält. Wie Recherchen zeigen, will das zuständige Schweizer Bundesamt die Regelung übernehmen. Obwohl das Parlament vor kurzem das Gegenteil beschlossen hat.

Ein Prosit auf die Bürokratie: EU-Winzer müssen neu eine Nährwertangabe auf ihre Weinflaschen drucken.Ein Prosit auf die Bürokratie: EU-Winzer müssen neu eine Nährwertangabe auf ihre Weinflaschen drucken.

Illustration Dario Veréb / NZZaS

Der Winzer Andreas Meier öffnet die Tür zu seinem Weinkeller: «Die Trauben sind jetzt seit drei Wochen gelesen», sagt der Mitte-Nationalrat. Im historischen Gewölbe im Winzerdorf Würenlingen lagert die diesjährige Ernte in Tanks und Eichenfässern. «Das hier ist jetzt ein Riesling-Silvaner», sagt er und öffnet den Hahn des riesigen Behälters. «Er hat schon eine schöne Säure», sagt er, den noch ganz jungen Wein rühmend.

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Meier ist Weinbauer durch und durch. Er liebt die Arbeit im Rebberg und im Keller. Sorgen bereitet ihm aber die Regulierungswut der Behörden. «Bereits heute brauche ich in meinem Kleinbetrieb eine Arbeitskraft nur für die Bürokratie und all die Kontrollen.» Und er befürchtet, dass es schlimmer wird. Denn der Bund will eine umstrittene Regelung aus der EU übernehmen.

In der Union müssen Weinbauern neu deklarieren, wie viele Kalorien ihre Tropfen enthalten. Selbst auf die teuersten Bordeaux und die edelsten Barolos gehört eine genaue Zutatenliste und eine Nährwerttabelle. Entweder müssen diese Informationen auf der Etikette direkt sichtbar sein. Oder ein QR-Code führt die Konsumentinnen und Konsumenten rasch zu den obligatorischen Informationen.

«Das braucht es einfach nicht. Wer zählt beim Weinkauf schon die Kalorien?», fragt sich Meier. Allein in seinem Betrieb stellt er fünfundzwanzig verschiedene Sorten her. Kommt die neue Regelung, müsste er jede davon ins Labor schicken und analysieren lassen. Dann müsste er auch sämtliche Etiketten neu gestalten und die zusätzlichen Informationen aufdrucken. «Das ist ein grosser Aufwand und Kostentreiber für einen Kleinbetrieb», so der Winzer.

Der Bund will die Vorgaben aus Brüssel durchsetzen

Der Bund sieht das anders. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) möchte die Regelung so rasch wie möglich einführen. Bereits 2024 hat es einen ersten Anlauf unternommen. «Aus Sicht des Konsumentenschutzes und der Information wäre eine Nährwertdeklaration auf Wein zu begrüssen», schreibt das Amt auf Anfrage. Aufgrund des grossen Widerstandes habe man aber darauf verzichtet. Die zuständige Parlamentskommission hat sich vergangenen November sehr deutlich dagegen ausgesprochen.

Doch wie Recherchen zeigen, kommt die unbeliebte Regelung schon bald wieder aufs Tapet. Durch die Hintertür aus Brüssel. Denn die Schweiz hat mit der EU ein bilaterales Landwirtschaftsabkommen abgeschlossen. Dieses wurde seit 2018 nicht mehr aktualisiert. Beim nächsten Update dürfte die Deklarationspflicht aber Thema werden, wie das BLV schreibt: «Es ist davon auszugehen, dass sie bei der nächsten Aktualisierung des Landwirtschaftsabkommens aufgenommen und die Schweiz dann Äquivalenz herstellen wird.»

Die Winzer sind in Bundesbern eine Macht. Sie reagieren empört auf die Pläne des Bundes. «Es ist erschreckend, wie sich das BLV einmal mehr eigenmächtig über das Parlament hinwegsetzt», sagt die Weinbäuerin und SVP-Nationalrätin Katja Riem. Noch sei die Schweiz nicht verpflichtet, solche «bürokratischen Leerläufe» aus Brüssel einfach zu übernehmen. Sie erwarte vom Amt, dass es Nein sage. «Schliesslich hat das Parlament sich zu dieser Frage klar geäussert.»

Für die SVP-Nationalrätin geht es auch um ein grundsätzliches Problem: «Das Beispiel zeigt, wie gefährlich die neuen Abkommen sind. In Zukunft müsste die Schweiz Dutzende solcher Regelungen automatisch übernehmen.»

Schwerer Wein ist eine Kalorienbombe

Beim Streit um die Weinetikettierung kommt viel zusammen: Es geht um unser Verhältnis zur EU. Wie autonom kann die Schweiz heute und in Zukunft überhaupt noch entscheiden? Und es geht auch um unseren Umgang mit dem Genussmittel Alkohol. Wein ist heute – neben offen verkauften Früchten oder Gemüse – praktisch das einzige Lebensmittel, bei dem der Nährwert nicht ausgewiesen werden muss. Obwohl Weine ziemliche Kalorienbomben sind.

Im Grundsatz gilt die Faustregel, dass der Nährwert mit zunehmendem Alkoholgehalt ansteigt. So hat eine Flasche leichter Rotwein mit 12 Volumenprozent einen Nährwert von ungefähr 518 Kilokalorien, wie die Zahlen der Schweizerischen Nährwertdatenbank zeigen. Mit dem Klimawandel werden aber auch die hiesigen Weine schwerer. Realistisch dürften etwa 13,5 Prozent sein. Eine solche Flasche schlägt dann bereits mit rund 570 Kilokalorien zu Buche. Zum Vergleich: Das ist mehr als eine Tafel Milchschokolade (537 kcal). Tropfen aus Südeuropa mit noch höherem Alkoholgehalt sind mit über 600 Kilokalorien die Schwergewichte unter den Weinen.

Die Sportlehrerin und SP-Nationalrätin Andrea Zryd trinkt selbst keinen Alkohol. «Weil ich den Geschmack nicht mag», wie die Bernerin betont. Sie wolle das Genussmittel Wein nicht verteufeln, doch man müsse ihn nicht auch noch bevorzugen. «Es ist grundsätzlich richtig, dass die Kalorienzahl bei einem Lebensmittel angegeben werden muss.» Sie ist überzeugt, dass viele nicht abschätzen können, wie hoch der Nährwert von alkoholhaltigen Getränken ist. «Übergewicht ist eine der gravierendsten Volkskrankheiten, und versteckte Kalorien sind ein grosses Problem.» Aus ihrer Sicht sei Transparenz eigentlich immer etwas Positives, so die Sozialdemokratin.

«Ich begrüsse die Übernahme dieser EU-Regelung», sagt auch EVP-Nationalrat Marc Jost. «Es gibt keinen Grund, beim Wein eine Ausnahme zu machen.» Jost ist Mitglied beim Blauen Kreuz und engagiert sich in der Suchtprävention. «Heute sind alkoholfreie Getränke gegenüber Wein im Nachteil. Bei ihnen muss der Kaloriengehalt deklariert werden.» Jost hofft, dass die Deklarationspflicht dazu führt, dass gesundheitsbewusste Weinliebhaber vermehrt auf alkoholfreie Produkte umschwenken, weil diese auch deutlich besser sind für die Linie.

Andreas Meier fährt vor dem Feierabend noch einmal in den Rebberg. Der Aargauer Jura ist mit seinen kalkhaltigen Böden ideal für den Weinbau. «Hier hängen noch die letzten Cabernet-Trauben», sagt der Winzer und zeigt auf eine Zeile Rebstöcke. Meier kostet eine der dunkelblauen Beeren: «Die Herbstsonne gibt ihnen noch die letzte Süsse.»

Und damit noch ein paar Kalorien mehr.

Ein Artikel aus dem «NZZ am Sonntag»