„Kavkaz.Realii“, das Nordkaukasus-Projekt von Radio Free Europe/Radio Liberty, hat die Gründe für die Fahnenflucht in der russischen Armee recherchiert. Dazu werteten die Journalisten gemeinsam mit Experten Berufungsurteile von Militärgerichten im südlichen Armeebezirk aus.

Die Motive der Deserteure sind demnach vielschichtig – eine Ablehnung des Kriegs gehört jedoch eher nicht dazu. Überraschend ist das nicht: Denn bis auf eine Teilmobilisierung im Herbst 2022 hat der Kreml bisher davon abgesehen, seine männliche Bevölkerung zwangsweise zu verpflichten. Stattdessen schafft der Staat finanzielle Anreize, um Menschen für den Krieg anzuwerben.

Eine deutlich größere Rolle spielen dem Bericht zufolge zumindest im südlichen Russland private Gründe. So sei ein häufiges Motiv Eifersucht: Eine Frau wird ihrem Mann in der Heimat mutmaßlich untreu und er verlässt die Front, um der Sache nachzugehen. Laut der Recherche veranlasst auch die Betreuung von Kindern oder erkrankten Familienmitgliedern die Soldaten zur Fahnenflucht. Oftmals versuchen sie demnach auch, eine offizielle Erlaubnis zum Verlassen der Front zu bekommen, die dann jedoch nicht erteilt wird.

Fehlende medizinische und psychische Unterstützung ist ein weiterer Grund. Zahlreiche Deserteure berichten, dass ihnen nach Verwundungen oder psychischen Belastungen Hilfe verweigert wurde. Manche litten unter posttraumatischem Stress oder chronischen Krankheiten, konnten aber keine Behandlung bekommen.

Auch schlechte Zustände in der Armee motivieren offenbar zur Fahnenflucht: Chaos, Druck durch Vorgesetzte, ausbleibende Zahlungen oder Misshandlungen. Einige Soldaten flohen auch schier aus Angst, „wie Kanonenfutter“ in sinnlose, gefährliche Einsätze ohne Munition geschickt zu werden.

Russlands Armeeführung versucht bereits, der Entwicklung Herr zu werden, setzt dabei aber vor allem auf bürokratische Maßnahmen. So werden etwa die Kontrollen an Checkpoints erhöht. Außerdem arbeiten Polizei und Militär enger zusammen, um Deserteure an ihren Wohnorten aufzuspüren. Oftmals werden ihnen lange Haftstrafen von bis zu 15 Jahren angedroht.

Zumeist bleibt das jedoch symbolisch, denn ein größeres Interesse haben die russischen Kommandeure daran, dass die Soldaten wieder an die Front zurückkehren. Anstatt ein Gerichtsurteil abzuwarten, werden gefasste Fahnenflüchtige einfach wieder zurück in ihre Einheiten gebracht. Erst nach mehrmaliger Fahnenflucht kommt es tatsächlich zu Prozessen. Zudem setzt Russland wohl vermehrt auf sogenannte Sperreinheiten, also Trupps, die hinter den eigenen Linien Rückzug oder Flucht verhindern sollen.