Mutierte Proteine, die ins Gehirn wandern, setzen dem komplexen Organ über sehr lange Zeit hinweg zu – bis der gefürchtete Gedächtnisverlust beginnt. Gelangen sie über unser Essen in den Körper?

Jahrzehntelang kämpfen Immunzellen namens Mikroglia im Gehirn gegen mutierte Proteine, die zu Ablagerungen verklumpen und zum Zelltod führen. Wie? Sie fressen die Eiweiße schlichtweg auf. Doch die Veränderungen greifen lawinenartig um sich, und die Immunzellen werden im Alter müde. Die Versuche von Christian Humpel (Med-Uni Innsbruck) stützen dieses Verständnis davon, wie die Alzheimer-Krankheit entsteht – gezeigt hat er dies im Mausmodell.

Ursprünglich beschäftigte sich der Neurobiologe mit der Parkinson-Erkrankung, damals noch am an­gesehenen Karolinska-Institut in Schweden. „Dort bin ich Anfang der 1990er-Jahre in Kontakt mit zwei Wachstumsfaktoren gekommen“, erzählt Humpel. Das waren das erst neu entdeckte Protein GDNF, das Dopamin-Neuronen vor dem Zelltod schützt (und damit Parkinson entgegenwirkt), und das Protein NGF. Zurück in Österreich an der Med-Uni Innsbruck richtete er mit diesem Wissen seinen Fokus auf eine andere neurodegenerative Erkrankung: Alzheimer. „NGF schützt Nervenzellen, die den für die Erinnerung verantwortlichen Botenstoff Acetylcholin bilden und die bei der Alzheimer-Demenz absterben“, erklärt er. Substanzen, die verhindern, dass es zum Abbau von Acetylcholin kommt, werden heute eingesetzt, um leichte bis mittelschwere Symptome zu lindern und die Demenz zu verzögern.

Fehler verbreiten sich rasant

„Mich hat interessiert: Warum sterben diese Nervenzellen bei der Alzheimer-Erkrankung, und wie können wir den Zelltod verhindern?“ Um Antworten auf diese Fragen zu finden, entwickelte er den dreidimensionalen „organotypischen Gehirnschnitt“ für das Mausmodell weiter und experimentierte mit NGF. Über drei Jahrzehnte hinweg verfeinerte er die Methode, um daran die eingangs erwähnte Spreading-Hypothese über die Ausbreitung von Ablagerungen an 150 Mikrometer dünnen Hirnscheiben von gesunden sowie von genetisch veränderten „Alzheimer-Mäusen“ zu untersuchen.

Sein Schwerpunkt liegt dabei nicht auf der seltenen vererbbaren, sondern auf der „erworbenen“ Form der Erkrankung. Hier treten erste Veränderungen – Mutationen des Proteinfragments Beta-Amyloid und des Proteins Tau – schon Jahrzehnte vor den Symptomen auf. Die Fehlfunktionen breiten sich ausgehend von einem Gehirnareal exponentiell in Nachbarregionen aus. Wenn die Ablagerungen (Plaques) riesig sind und ein Großteil der Nervenzellen durch massive Verklumpungen abgestor­ben ist, setzt der Gedächtnisverlust ein. Humpel ist es – zuletzt in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt – gelungen, die Spreading-Hypothese zur Ausbreitung von Plaques zu untermauern.

Theorie: Aufnahme schadhafter Proteine übers Essen

Bei Alzheimer treten beide durch Beta-Amyloid und Tau ausgelöste Pathologien auf, aber: „Es ist viel komplizierter. Wir sehen Entzündungen und, dass Immunzellen aktiviert werden, die das Gehirn schützen. Wir sehen, dass Zellen in bestimmte Bereiche einwandern und die Ablagerungen wieder abbauen. Doch wir sehen auch, dass Gefäße degenerieren und sich die Blut-Hirn-Schranke öffnet, wodurch toxische Substanzen ins Gehirn gelangen.“

Der Neurobiologe Christian Humpel hält gesunde Gefäße – wie beim Herzen – für die Gehirngesundheit für entscheidend.

Der Neurobiologe Christian Humpel hält gesunde Gefäße – wie beim Herzen – für die Gehirngesundheit für entscheidend. Med-Uni Innsbruck

Woher kommen nun die krankhaften Eiweiße? Auf die Gehirnschnitte – von sowohl gesunden als auch transgenen Mäusen – wurden die mit der Alzheimer-Krankheit verbundenen mutierten Proteine aufgebracht und deren Effekte untersucht. Es gebe vage Theorien, dass schadhaft mutierte Eiweiße z. B. über das Essen aufgenommen werden, sagt Humpel mit Verweis auf die Creutzfeldt-Jakob- und die Kuru-Krankheit. Als erwiesen gilt hingegen, dass ein Lebensstil mit guter Ernährung, viel Bewegung, lebenslangem Lernen, sozialen Kontakten und Verzicht auf Nikotin und Alkohol das Risiko senkt. Er selbst hält gesunde Gefäße wie beim Herzen für entscheidend.

Einmal spucken, bitte

Da die Menschen immer älter werden und das Risiko mit den Lebensjahren steigt, rechnet Humpel mit einem enormen Anstieg der Fälle. Da Therapien in jungen Jahren – bevor die ersten Symptome über den Betroffenen hereinbrechen  – starten sollten, ist die Forschung an einer günstigen und unkomplizierten Diagnostik essenziell. In der klinischen Routine sind Biomarker im Liquor (Rückenmarkflüssigkeit) zuverlässig und gängig, was allerdings einen invasiven Eingriff voraussetzt. Ein aktueller Ansatz ist, gute Biomarker in Blut oder sogar Speichel zu identifizieren und Labore für deren Bestimmung zu zertifizieren. Humpel ist zuversichtlich: „Ich denke, dass wir 2026 entsprechende Blutbiomarker in der klinischen Routine etablieren können.“

Zur Person

Christian Humpel (63) ist Professor für Experimentelle Psychiatrie an der Med-Uni Innsbruck. Für die von ihm optimierte Gehirnschnitt-Methode erhielt er im Jahr 2000 den Staatspreis, 2001 wurde er mit dem Otto-Loewi-Award ausgezeichnet und kürzlich – für sein Lebenswerk – mit dem „Tuba-Preis“ (Dr. Johannes und Hertha Tuba-Stiftung).

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