Die Berichte wecken düstere Erinnerungen und sorgen für Alarmstimmung im Baltikum: Aufgrund verstärkter russischer Militäraktivitäten hat Estland einen Grenzübergang vorübergehend geschlossen, das berichtete der öffentlich-rechtliche Sender ERR. Die Entscheidung sei vor dem Hintergrund der wachsenden Bedrohung der regionalen Sicherheit getroffen worden, hieß es weiter.
Zuletzt hatten russischen Drohnen und Kampfjets wiederholt den Nato-Luftraum verletzt. Estland hatte nach der Sichtung russischer Kampfjets in seinem Luftraum kürzlich bereits Konsultationen der Nato beantragt – nun folgte offenbar die nächste Provokation aus Russland, diesmal jedoch am Boden.
Estland meldet „bewaffnete Gruppen an der Grenze“
Nach Angaben des estnischen Kommandeurs Kunter Pedoski sei vor der Grenzschließung eine ungewöhnlich hohe Präsenz russischer Militärangehöriger nahe der Grenze gesichtet worden. „Russische Grenzschützer patrouillieren routinemäßig in der Gegend, da sie auf ihrem Territorium liegt. Heute haben wir jedoch deutlich mehr Bewegung als sonst bemerkt“, zitierte der Sender den hochrangigen Militär.
„Wir sahen die Bewegung verschiedener bewaffneter Gruppen an der Grenze und in ihrer unmittelbaren Umgebung“, erklärte auch der Leites des Grenzschutzes in der Region, Meelis Saarepuu. „Anhand ihrer Uniformen war klar, dass es sich nicht um Grenzsoldaten handelte.“
Grenzübergang geschlossen, um „Eskalation zu verhindern“
Kommandeur Pedoski betonte zudem, dass eine Straße in der Gegend teilweise durch russisches Territorium führe und daher immer ein gewisses Risiko berge, die aktuelle Situation sie jedoch gefährlicher als sonst gemacht habe. „Wir haben die Entscheidung getroffen, den Übergang vorübergehend zu schließen, um eine Eskalation zu verhindern“, sagte Pedoski.
Estnische Behörden veröffentlichten zudem Videoaufnahmen von einer Gruppe uniformierter Soldaten, die sich auf dem kleinen Teilstück der Straße im russischen Gebiet versammelt haben sollen – was auf estnischer Seite als Provokation gedeutet wurde. In Moskau war hingegen von reinen „Routinemaßnahmen“ die Rede.
Düstere Erinnerungen an „kleine grüne Männchen“ auf der Krim
Die Bilder aus dem Grenzgebiet weckten unterdessen bei ukrainischen Medien düstere Erinnerungen an den Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Im Februar 2014 waren von Medien als „kleine grüne Männchen“ getaufte Truppen ohne russische Hoheitsabzeichen als verdeckte Einheiten auf der ukrainischen Krim-Halbinsel aufgetaucht – und dienten schließlich als Vorhut für die folgende Annexion der Krim.
Kremlchef Wladimir Putin hatte eine Verbindung zu den Einheiten zunächst geleugnet. Ein Jahr später gab ein russischer General dann doch bekannt, dass es sich um russische Einheiten gehandelt habe. Zuvor waren einige der „grünen Männchen“ in sozialen Netzwerken zweifelsfrei als russische Militärangehörige identifiziert worden.
Erneute Provokation passt ins Bild
Die erneute Provokation nahe der Nato-Grenze passt unterdessen ins Bild aus den letzten Wochen – und zu westlichen Analysen. „Russland scheint die Phase 0 seiner Kampagne zur Vorbereitung auf einen möglichen künftigen Krieg zwischen der Nato und Russland zu beschleunigen“, warnte zuletzt etwa das amerikanische Institut für Kriegsstudien mit Blick auf die jüngsten Vorfälle, aber auch auf Äußerungen des Kremls und in Moskauer Staatsmedien.
Dass es immer mehr Vorfälle wie Drohnen im Nato-Luftraum, Sabotageakte, GPS-Störungen und Brandstiftungen gebe, deute darauf hin, dass Moskau in eine erste Vorbereitungsphase für einen Konflikt mit der Nato eingetreten sei. Eine Bewertung darüber, ob der Kreml tatsächlich einen Krieg gegen das westliche Verteidigungsbündnis plant, gaben die US-Analysten jedoch nicht ab.
„Putins Eskalation gegenüber Europa ist eindeutig“
„Putins Eskalation gegenüber Europa ist eindeutig“, warnte nun auch der Geopolitik- und Sicherheitsexperte Dmitri Alperovitch. Für den aggressiven Kurs des Kremls gebe es gleich mehrere Gründe, erklärte der US-Analyst. Der Kreml sei „wütend“ wegen „mangelnder Fortschritte auf dem Schlachtfeld“ und der „Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Russlands“. Auch der derzeit „niedrige Ölpreis“ und die ukrainischen Angriffe auf Ziele tief in Russland sorgten für Frust in Moskau, erklärte Alperovitch auf der Plattform X.
Missstimmung herrsche bei Putin jedoch auch, weil es ihm nicht gelungen sei, Donald Trump bei einem Treffen in Alaska auf seine Seite zu ziehen, führte der Analyst aus. Während der Kremlchef den US-Präsidenten weiter mit Samthandschuhen anfasse, falle es Moskau leicht, „ohne Konsequenzen gegen die Europäer zu wettern“, erklärte der Experte – und prognostizierte weitere Provokationen.
Geopolitik-Experte: „Krieg tritt nun in eine neue Phase ein“
„Putins Krieg gegen die Ukraine tritt nun in eine neue Phase ein“, schrieb Alperovitch. Der Kremlchef wolle zwar keinen Krieg gegen die Nato, werde aber versuchen, mit Provokationen das EU-Engagement für die Ukraine zu verringern und weitere Waffenlieferungen, etwa von deutschen Taurus-Marschflugkörpern, zu unterbinden, glaubt der US-Analyst und warnt vor dem Kurs des Kremls. Russische „Fehleinschätzungen der europäischen Entschlossenheit“ seien möglich, die Lage sei deshalb „zunehmend gefährlich und instabil“, so Alperovich.
Auch im Baltikum fürchtet man offenbar zunehmend den Ernstfall. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, arbeiten Estland, Litauen und Lettland mittlerweile an Notfallplänen, um die zu erwartende Flucht von Hunderttausenden Menschen bewältigen zu können, sollte es tatsächlich zu einem russischen Angriff in der Region kommen.
„Es ist möglich, dass wir eine mächtige Armee entlang der Grenzen des Baltikums sehen werden“, zitierte Reuters den ehemaligen Leiter des litauischen Grenzschutzes, Renatas Pozela, der laut der Nachrichtenagentur an der Entwicklung der Evakuierungspläne für den Notfall beteiligt ist.