Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksij Makejew, und der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Thomas Röwekamp (CDU), haben im Clasen Talk ein düsteres Szenario gezeichnet: Russland denke nicht an einen Frieden in der Ukraine; es rüste mit voller Kraft auf, ziele mittelfristig auf die NATO, zuerst aufs Baltikum. Deutschland müsse sich auf eine direkte Konfrontation mit Putin vorbereiten.
Röwekamp stimmte Kanzler Friedrich Merz zu, Deutschland befinde sich „nicht mehr im Frieden“. Formell sei die Bundesrepublik keine Kriegspartei. „Aber wir sehen jeden Tag über unsere militärische und zivile Infrastruktur Drohnen, Überflüge, Kartierungen von Militärgeländen.“ Deutschland erlebe Angriffe im Cyber- und Informationsraum, sogar beunruhigende Vorgänge im Weltraum. Putin führe „jetzt schon Aggressionen gegen uns in Deutschland und Europa“.
Der CDU-Mann, einer der bedeutendsten Sicherheitspolitiker des Bundestags, zeigte sich unmissverständlich: Russland werde „weiter aufrüsten und in den nächsten Jahren auch militärisch in der Lage sein, ein NATO-Land anzugreifen“.
Putin hat innenpolitisch den Rücken frei
Eine Verhandlungslösung? Weder er noch der ukrainische Botschafter glauben an Gespräche mit Putin. „Russland wäre in der Lage, diesen Krieg und das Töten von Menschen jederzeit sofort zu beenden, indem es einfach die Kriegshandlungen einstellt. Aber das tut es nicht und es will auch nicht ernsthaft verhandeln“, sagte Röwekamp. „Es will Krieg führen in der Ukraine und es will den Westen und uns bedrohen und bereitet militärisch die Fähigkeit vor, neben der Ukraine auch andere Länder in Europa anzugreifen.“
Diplomat Oleksij Makejew sah das auch so: Seit 2014 habe Moskau „40 bis 50 Waffenruhen gebrochen. Es gibt nur leere Worte.“ Beide warnen: Russland wolle nicht nur die Ukraine vernichten, sondern „den Westen bedrohen“.
Das liegt auch daran, dass die Unterstützung für Putins Regime in Russland ungebrochen scheint: „Das ist nicht der Machthaber allein, der diesen Krieg führt, sondern Millionen von Soldaten, die sich freiwillig melden – mit 70 bis 80 Prozent Unterstützung in der Bevölkerung“, sagte Makejew. Jahrelange Desinformation und Propaganda hätten Russland vergiftet. „140 Millionen Menschen, die glauben, sie seien von Feinden umzingelt. Das ist ein Riesenproblem.“
Oleksij Makejew ist seit 2022 Botschafter der Ukraine in Deutschland.
Archivfoto: IMAGO/photothek
Icon MaximizeIcon Lightbox Maximize
SchliessenX ZeichenKleines Zeichen welches ein X symbolisiert
Deutschland braucht Klarheit im Drohnenkrieg
Wie aber soll Deutschland auf russische Drohnen reagieren? Röwekamp drängte auf einen Umbau der Sicherheitsarchitektur: „In Deutschland sind für die Bekämpfung von Drohnenangriffen 18 unterschiedliche Sicherheitsbehörden zuständig. Das ist keine geeignete Antwort.“ Die Bundeswehr müsse „rechtlich wie technisch“ befähigt werden, Drohnen im Inland abzufangen – „notfalls auch abzuschießen“.
Die Lage an der Front sei bereits dramatisch, berichtete Makejew: „Manchmal fliegen in einer Nacht 800 Drohnen und 50 Raketen auf unser Land.“ Selbst Deutschland könne bei dieser Dichte „kein Land der Welt“ vollständig schützen. Europa brauche deshalb ein integriertes Luftabwehrsystem, in das die Ukraine eingebunden werden müsse – auch wegen ihrer Kampferfahrung.
Lesen Sie mehr: Russland startet Offensive gegen Ukraine mit Kampfflugzeugen und Drohnen
Drei-Schichten-Betrien in Rüstungsindustrie?
Dass die Bundeswehr für einen Krieg mit Russland materiell gewappnet ist, glaubten die Gäste nicht: „In Deutschland wird in vielen Werken noch acht Stunden gearbeitet, mit Wochenende und Betriebsferien. Bei uns läuft Drei-Schicht-Betrieb, 24 Stunden am Tag“, sagte Makejew. Deutschland habe modernste Systeme geliefert – „Patriot, Leopard, IRIS-T“ –, die Stückzahlen aber seien „absolut unzureichend“, um den Krieg gegen Russland zu gewinnen.
Der Botschafter forderte deswegen mehr Investitionen, gemeinsame Produktion mit Unternehmen wie Rheinmetall oder Flensburger Fahrzeugbau – und den Einsatz eingefrorener russischer Vermögen: „Wieso zahlen unsere Steuerzahler für die Unterstützung der Ukraine, und das Geld des Aggressors bleibt heilig?“ Röwekamp stimmte dem weitgehend zu: Der Rüstungsmotor Deutschlands laufe. „Aber er läuft noch nicht lange genug.“
Junge Deutsche sollen sich wieder verpflichten
Und dann, das ist für Röwekamp klar, muss die Bundesregierung die Manpower der Bundeswehr vervielfachen. „Wir müssen die aktive Truppe um 50 Prozent steigern und die Reserve verdreifachen“, sagte er. Der Plan von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), den Aufwuchs zunächst freiwillig zu organisieren, sei richtig – aber wohl nicht ausreichend. „Ich bin sehr skeptisch, dass das gelingt.“
Denn auf Freiwilligkeit möchte Röwekamp sich nicht verlassen: „Wir müssen junge Menschen wieder verpflichten können, in den Dienst der Bundeswehr zu treten.“ Deshalb müsse Deutschland alsbald verabreden, zu welchen Bedingungen es zu einer Wehrpflicht zurückkehrt; notfalls mit Pflichtdienst.
Europa ist stark – auch ohne die USA?
Makejew ergänzt: Nur ein wehrhaftes Europa könne Putin stoppen. „Er wird nur dann stoppen, wenn er gestoppt wird.“ Russland bereite sich längst darauf vor, „auch baltische Staaten anzugreifen“. Deshalb brauche es Entschlossenheit und Vertrauen in die gemeinsame Stärke: „Warum müssen 500 Millionen Europäer auf 300 Millionen Amerikaner warten, um 140 Millionen Russen zu bekämpfen?“
Röwekamp stimmt dem Botschafter zu, dass Europa Putins Russland militärisch abschrecken muss: „Frieden wird durch Abschreckung erreicht werden können.“ Die Zeitenwende, so scheint es, steckt noch in den Kinderschuhen. Deutschland wird aus sich herauswachsen müssen.
Von aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg erfahren Sie in unserem Liveblog