
Stand: 13.10.2025 06:00 Uhr
Jehona Kicaj wurde 1991 im Kosovo geboren. Mit ihrem Romandebüt „ë“ steht sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Darin formt die Autorin aus Schmerz und Sprachlosigkeit faszinierende Bilder voller Tiefe und Gefühl.
Nach dem Aufwachen habe ich einen Splitter im Mund. Er fühlt sich an wie ein kleiner Kieselstein. Ich spucke ihn ins Waschbecken und sehe: es ist ein kleines Stück Zahn.
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So beginnt Jehona Kicajs Roman „ë“. Die Erzählerin der Geschichte ist eine junge Frau, die die Zähne zusammenbeißt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Der Zahnarzt ist alarmiert:
„Im allerschlimmsten Fall können Sie in zehn Jahren nicht mehr kauen und sprechen, ohne dass sie dabei Schmerzen haben, weil die Knorpelscheibe im Lauf der Zeit komplett zerstört ist. (…) Ich sehe hoch zur kahlen Decke und frage mich, ob ich Angst oder Erleichterung empfinden soll, wenn ich mir vorstelle, nicht mehr sprechen zu können.“
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Die Last der fehlenden Worte
Das Gefühl keine Stimme zu haben, nicht gehört oder, falsch verstanden zu werden und nicht die Kraft zu haben, die Dinge gerade zu rücken, begleitet die Erzählerin seit Jahren. Frisch in der deutschen Schule singt die Klasse ein Lied, das den Refrain „Guten Tag, auf Wiedersehen“ hat. Die neue Freundin Leyla spricht die Worte auf Türkisch, dann wendet sich die Lehrerin an die Erzählerin:
Die nächste Sprache sei Jugoslawisch, sagte sie, und wir hätten hier doch jemanden, der sie spricht. Sie sah mich an, und erst als die anderen ihrem Blick gefolgt waren, verstand ich, dass sie mich meinte. Ich errötete und sah auf das Blatt. Unter den Noten, die ich nicht lesen konnte, stand eine Buchstabenfolge, die ich zuvor noch nie gelesen hatte: Dober dan, dovidenja. Das sei meine Sprache, sagte sie. Ich las die Zeilen nochmal, verstand nicht, wie sie darauf kam. Ich öffnete den Mund, aber mir fehlten die Worte, um zu erklären, dass es nicht stimmte.
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Albanisch ist eine Sprache, die nicht mit den anderen Sprachen des früheren Jugoslawiens verwandt ist. Sie wird nicht nur in Albanien, sondern auch im Kosovo gesprochen. Bis heute sind die Wurzeln der Sprache rätselhaft.

Mit der Göttingerin Jehona Kicaj steht eine norddeutsche Autorin mit „ë“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Wie aus Trauma und Erinnerung eine neue Stimme wächst
Jehona Kicaj formt im Buch aus der Sprachlosigkeit wunderschöne Bilder:
Du sprichst wie mein Großvater, sagen sie mit ein wenig Hohn in der Stimme oder korrigieren mich, indem sie ein moderneres Wort wählen, das ich nicht oder nicht gut genug kenne, um es zu verwenden. Ich spreche eine Sprache, die in Deutschland konserviert wurde; ein eingefrorenes Albanisch, das ich in meinem Mund warm halte.
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Die Heldin von „ë“ bleibt namenlos. Aus dem „im Mund warm gehaltenen“ Albanisch wird ganz leise und dann immer fester ihre Stimme, die Stimme einer Frau, die sich mit den Traumata in der eigenen Familiengeschichte, den Traumata des Kosovo-Krieges, auseinandersetzt und dadurch wächst.
Jehona Kicaj findet Worte für die Sprachlosigkeit angesichts der Gräuel eines weithin kaum beachteten Krieges, sie findet Klänge für Erinnerungen, die nicht die eigenen sind, und entfaltet Bilder für das Ausgesetztsein in dieser Welt.
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