Inhalt / Kritik

Korsika, 1995. Die fünfzehnjährige Lesia (Ghjuvanna Benedetti) lebt nach dem Tod ihrer Mutter bei ihrer Tante (Pascale Mariani), während ihr Vater Pierre-Paul (Saveriu Santucci) seit Jahren im Untergrund lebt. Nur in den Schulferien darf sie ihn gelegentlich besuchen. Eines Tages wird sie überraschend von einem Mann namens Santu (Andrea Cossu) abgeholt und zu ihm gebracht – in ein abgelegenes, streng bewachtes Haus in den korsischen Bergen. Pierre-Paul ist das Oberhaupt eines einflussreichen Clans, der im Verborgenen agiert und sich in einem latenten Konflikt mit rivalisierenden Gruppen befindet. Während Lesia die Tage mit ihrem Vater und dessen Gefolgsleuten verbringt, bleiben die Spannungen in ihrem Umfeld nicht verborgen. Aus den Fernsehnachrichten erfährt sie von Anschlägen und Vergeltungsaktionen, deren Ursprung in ihrem unmittelbaren Umfeld zu liegen scheint. Als die Lage eskaliert und Pierre-Pauls Leben zunehmend bedroht ist, muss er fliehen – und Lesia begibt sich, ohne dass ihr Vater das möchte, mit auf diese Flucht.

Korsika, Clan und Coming of Age

Julien Colonnas Spielfilmdebüt Kingdom – Die Zeit, die zählt verbindet die karge Schönheit Korsikas mit einer Geschichte über Loyalität, Angst und das Erwachsenwerden im Schatten organisierter Gewalt. Der Regisseur, selbst als Sohn eines mutmaßlichen korsischen Mafiabosses aufgewachsen, zeigt ein Korsika jenseits touristischer Idylle: eine Landschaft, in der Schweigen, Misstrauen und Clanbindungen das soziale Gefüge bestimmen. Die korsische Mafia, hier ohne Glanz und Mythen, erscheint als fast bäuerlich verwurzelte Struktur, deren Rituale und Hierarchien sich tief ins Alltagsleben eingegraben haben. Colonna verzichtet bewusst auf klassische Genrekonventionen und schildert diese Welt aus der Perspektive eines jugendlichen Mädchens, das versucht, das Unbegreifliche zu verstehen – und erweitert damit die Grenzen des Mafiafilms.

Getragen wird der Film von zwei herausragenden Hauptdarstellern, die beide zuvor keine nennenswerte Schauspielerfahrung hatten. Ghjuvanna Benedetti überzeugt mit einer beeindruckenden Leinwandpräsenz, die weit über ihr Alter hinausreicht. Ihr Spiel ist leise, konzentriert und ausdrucksstark, besonders in den Momenten des Beobachtens. Sie erzählt mit Blicken, Gesten und vor allem mit den Händen – eine intuitive Körperlichkeit, die sich tief einprägt. Saveriu Santucci als Pierre-Paul steht ihr in nichts nach. Er verkörpert einen Mann, der zugleich Vaterfigur, Clanführer und Gefangener seiner eigenen Entscheidungen ist. Dass Colonna mit einem Ensemble aus größtenteils Laiendarstellern und -darstellerinnen arbeitet, verleiht dem Film eine ungekünstelte Authentizität, die sich in jeder Szene spüren lässt.

Atmosphäre statt Action

Der Regiedebütant beweist ein bemerkenswertes Gespür für Rhythmus und Zurückhaltung. Kingdom – Die Zeit, die zählt ist ruhig erzählt, beinahe kontemplativ, und entfaltet seine Spannung weniger durch Handlung als durch Atmosphäre. Die Gewalt bleibt meist im Off, ihre Präsenz aber ist permanent spürbar. Das verleiht dem Film eine latente Bedrohung, die sich mit der noch eher kindlichen Wahrnehmung Lesias deckt. Ihre Perspektive bestimmt nicht nur die Kamera, sondern auch das Tempo der Erzählung: beobachtend, tastend, manchmal naiv, aber stets von Zuneigung geprägt. Dadurch erscheinen selbst die Männer des Clans nicht als Monster, sondern als Menschen, gefangen in einem System, das sie selbst erschaffen haben.

Neben der Figurenzeichnung überzeugt Kingdom – Die Zeit, die zählt durch seine präzise Inszenierung. Kamera (Antoine Cormier) und Regie bleiben dicht an Lesia, beobachten Gesten und Blicke, während die Welt um sie herum zunehmend ins Chaos driftet. Worte sind rar, Mimik und Gestik tragen das Gewicht der Handlung. Colonna versteht es, mit minimalen Mitteln große emotionale Wirkung zu erzielen, auch indem er einen im Vergleich zum Recht des Films untypischen Monolog Pierre-Pauls geschickt einsetzt. Das Drehbuch, entstanden in Zusammenarbeit mit Jeanne Herry (Regisseurin von All eure Gesichter und Tochter der Schauspielerin Miou-Miou), balanciert gekonnt zwischen Familiendrama und Kriminalfilm. Dass der Film ohne Effekthascherei auskommt, macht seine Wucht umso größer.

Credits

OT: „Le Royaume“
Land: Frankreich
Jahr: 2024
Regie: Julien Colonna
Drehbuch: Julien Colonna, Jeanne Herry
Musik: Audrey Ismael
Kamera: Antoine Cormier
Besetzung: Ghjuvanna Benedetti, Saveriu Santucci, Anthony Morganti, Andrea Cossu, Fréderic Poggi, Régis Gomez, Eric Ettori, Thoman Bronzini

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