CDU, SPD, Linke oder Grüne spielen keine Rolle mehr: In Frankfurt an der Oder kämpfen ein Parteiloser und ein AfD-Kandidat in der Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters. Die Wahl offenbart einen tief greifenden Umbruch.

Axel Strasser ist am Rosenthaler Platz aufgewachsen, in Berlin-Mitte. Zu einer Zeit, als Mitte noch ein Bezirk der Hauptstadt der DDR war und die Stadtteile jenseits der Mauer im SED-Deutsch als West-Berlin zusammengefasst wurden – ohne Bindestrich. Für viele Brandenburger waren und sind Berliner aus Ost wie West großstädtische, laute, ein wenig überdrehte Menschen, die am Wochenende das Umland fluten und die man wenig freundlich „Buletten“ nennt. Und so einer will nun Oberbürgermeister der sehr brandenburgischen Stadt Frankfurt (Oder) werden.

Seit fünf Jahren lebt Strasser erst in der Oder-Stadt, bislang hatte er kein politisches Amt. Der 48-Jährige gehört keiner Partei an. Er kann auf keinen Wahlkampfapparat zurückgreifen, wie ihn die Parteien haben – auf keine Geschäftsstelle, keine Parteiplakat-Klebetrupps, keine Parteikasse. Und trotzdem kam er im ersten Wahlgang der OB-Wahl auf 32,4 Prozent der Stimmen – und damit auf Platz eins.

Der Zweitplatzierte ist AfD-Kandidat Wilko Möller. Beide gehen an diesem Sonntag in die Stichwahl: ein Parteiloser gegen einen AfD-Mann. Die anderen Parteien, selbst die, die sich Volksparteien nennen, spielen keine Rolle mehr – CDU und SPD nicht, die Linke, die Wagenknecht-Partei BSW, die FDP und die Grünen nicht. Das ist das eigentlich Interessante an dieser Wahl.

Man muss ein Stück die breite Karl-Marx-Straße hinunterlaufen, die schnurgerade durch die 1945 völlig kriegszerstörte Innenstadt gezogene Hauptachse, bis man auf die ersten Wahlplakate stößt. Sie wirken klein vor der mächtig flimmernden Werbung für eine „U31-Tanzparty“ und anderen Schildern. Eine Stadt im Wahlkampffieber sieht anders aus. Die Frankfurter nehmen die Herausforderungen und Probleme mit einem gewissen Gleichmut. Man könnte auch Robustheit sagen. Oder Wurstigkeit. Dabei gibt es brennende Themen genug.

Die Stadt ist Haushaltssicherungskommune, weil die Kassen leer sind. Die Stadtverwaltung tut fast nur noch, was gesetzlich zwingend vorgeschrieben ist. Die Einnahmen aus der Gewerbe- und Einkommensteuer seien viel zu gering, sagt Axel Strasser – weit unter dem Durchschnitt im Land. Das will er ändern. Durch neue Unternehmen, die sich ansiedeln, die neue Jobs schaffen. Strasser ist Referent bei der Industrie- und Handelskammer in der Stadt.

Er nutzt einen Co-Working-Space an der Magistrale – so nennen die Frankfurter die Karl-Marx-Straße – für den Wahlkampf. Der Ort passt für einen OB-Kandidaten, der einen Wechsel verspricht. In dem Gebäude war früher lange das sogenannte Kinder-Kaufhaus, gehobene DDR-Architektur, die Fassade ist nahezu unverändert. Innen herrscht dagegen Lounge-Atmosphäre, mit Betonwänden, langen Bänken, Neonröhren. „Ich bin in keiner Partei, weil mich keine mit ihrem Programm überzeugt hat. Und weil ich sehe, dass das, was die Parteien tun, immer weniger Menschen überzeugt“, sagt Axel Strasser. „Ich könnte nicht mal sagen, welcher Partei ich nahestehe.“

Dass ein Parteiloser die Stadt regiert könnte, wäre in Frankfurt (Oder) nicht neu. Martin Wilke, OB von 2010 bis 2018, war parteilos. Sein Nachfolger René Wilke, OB von 2018 bis 2025 und nicht verwandt mit seinem Vorgänger, war es nach seinem Austritt bei der Linken ebenfalls. Neu ist aber das Duell Parteilos gegen AfD. Das Schwächeln der etablierten Parteien – nicht nur in den Kommunen und nicht begrenzt auf den Osten – zeigt sich hier deutlich.

Die örtliche CDU hatte die Anwältin und Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung Désirée Schrade ins Rennen geschickt, die beim ersten Wahlgang auf Platz drei ganz knapp hinter dem AfD-Kandidaten Möller landete. Danach folgte weit abgeschlagen die SPD-Kandidatin.

Schrade erklärt ihre Wahlniederlage so: „Dass in der Stichwahl ein AfD-Kandidat und ein parteiloser Bewerber stehen, zeigt, dass sich das von der AfD geprägte Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien zunehmend durchsetzt.“ Auch an Strasser übt die CDU-Frau massive Kritik: „Auch Dr. Axel Strasser nutzt diese Stimmung, indem er sich bewusst von allen Parteien distanziert und suggeriert, dass er unabhängig sei, weil er parteilos ist.“ Tatsächlich sei ein Oberbürgermeister „natürlich nicht unabhängig“, die Demokratie lebe „vom offenen Bekenntnis zu Parteien und klaren politischen Haltungen – nicht von Anti-Parteien-Rhetorik“, so Schrade.

Mit populistischen Parolen und dem Versuch, in der Stadt zu polarisieren, ist Strasser, der Polnisch spricht, bislang nicht aufgefallen. Aber von den politischen Parteien setzt er sich klar ab – was nicht überrascht, denn das ist sein größter Trumpf. Die zurückliegenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen und die schwierigen Regierungsbildungen dort haben gezeigt, dass viele Wähler mit dem Angebot der etablierten Parteien nicht zufrieden sind.

Enttäuschung über Ampel-Koalition wirkt nach

Die Enttäuschung über die Politik der damals noch regierenden Ampel-Koalition von Kanzler Olaf Scholz (SPD) war auch im Osten groß, und die Skepsis gegenüber der schwarz-roten Regierung des Nachfolgers Friedrich Merz (CDU) ist es weiterhin. „Wenn eine Bundes- oder Landesregierung nicht entsprechend liefert oder Wahlversprechen nicht einhalten kann, dann merken sich das die Leute und verpassen den Parteien auch in den Kommunen einen Denkzettel“, sagt Matthias Steinfurth, Landtagsabgeordneter und Vorsitzender der SPD-Fraktion im Frankfurter Stadtparlament.

Die SPD landete weit abgeschlagen im ersten Durchgang der OB-Wahl mit 8,6 Prozent für die Kandidatin Simona Koß. Die SPD war in Frankfurt noch nie besonders stark, was ungewöhnlich ist, weil die Partei seit der Wiedervereinigung das Land Brandenburg regiert. Aber Koß wurde von der Linken unterstützt, und die hatte in der Grenzstadt viele Jahre durchaus Gewicht. „An den Wahlständen haben uns die Leute immer wieder vorgeworfen: Ihr haltet nicht ein, was ihr im Wahlkampf versprochen habt. Adressat wäre eigentlich die Bundesregierung“, sagt SPD-Fraktionschef Steinfurth. Nur: Es beeindrucke niemanden, wenn man erkläre, dass man in Koalitionen Kompromisse machen müsse.

„Aber es wirkt, wenn die AfD oder ein Parteiloser sich hinstellen und behaupten: Wir machen keine Kompromisse. Dass das nicht funktionieren kann, interessiert erst mal keinen“, so Steinfurth.

Aber reicht das als Begründung für das schlechte Abschneiden von CDU, SPD, der Linken und den übrigen Parteien? „Vereine, Organisationen, Parteien – fast alle verlieren seit geraumer Zeit Mitglieder und büßen ihre Bindekraft ein. Politische Parteien schaffen es immer seltener, gesellschaftliche Debatten anzustoßen und Mehrheiten zu gewinnen“, sagt Frank Hühner, Vorsitzender des DGB-Stadtverbandes Frankfurt (Oder). „Die Individualisierung der Menschen wird größer, die Bereitschaft, sich dauerhaft in eine Gruppe einzuordnen, schwindet. Das merkt man auch bei den Wahlen.“

Wer glaube, der Besuch einer Stadtverordnetenversammlung könne jemanden für Politik begeistern, irre sich gewaltig, sagt Hühner. „Was man da erlebt, ist vor allem ein Beispiel für Leidensfähigkeit. Und es bildet kaum ab, was die Menschen wirklich bewegt, weil sich vieles in der abstrakten Welt der Verwaltungsvorgänge abspielt.“ Das dürfte ein Phänomen sein, das man in ganz Deutschland beobachten kann. Aber im Osten haben es Parteien inzwischen besonders schwer. „Parteien haben bei vielen Ostdeutschen ein schlechtes Image. Dieses Stigma ist ein Erbe der SED-Herrschaft und der angepassten Blockparteien in der DDR. Deshalb ist die Parteibindung im Osten viel geringer als bei den Westdeutschen“, erklärt Michael Möckel, Vorsitzender der CDU-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung.

Die Linke habe lange von ihrer Kernklientel profitiert, so Möckel. Schließlich war Frankfurt (Oder) Bezirkshauptstadt mit vielen SED-Funktionären, Stasi-Mitarbeitern und NVA-Angehörigen. „Aber diese Leute sterben weg. Wer Protest wählen will, geht nun zur AfD“, sagt der CDU-Mann. Und so wirbt der AfD-Kandidat Wilko Möller dafür, „für den Wechsel zu stehen“: „Ich bin zwar nicht parteiunabhängig, aber für Frankfurt würde ich alles tun.“ Dass Möller aus Hannover kommt, hat ihm bislang nicht geschadet. Er lebt seit Jahren in der Oder-Stadt, hat dort mehrmals das Direktmandat für den Landtag gewonnen. Bereits vor sieben Jahren trat Möller bei der Frankfurter OB-Wahl an. Damals wurde er immerhin Dritter. Die AfD-Geschäftsstelle war jetzt für ein Gespräch mit Möller nicht zu erreichen.

Wilko Möller war mal in der Jungen Union aktiv, dann ein paar Jahre FDP-Mitglied, bevor er 2013 zur AfD wechselte. Seine Vita zeigt, wie wenig entscheidend die Parteizugehörigkeit in der Frankfurter Stadtpolitik ist und war. René Wilke, der durch seinen Wechsel vom OB-Posten im Mai in das Kabinett von Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) die Neuwahl nötig gemacht hatte, war mit 16 in die damalige PDS eingetreten und 2024 nach internen Differenzen mit der Linken ausgetreten. Für das Amt des Innenministers hatte den dann Parteilosen die SPD nominiert.

Sein Vorgänger als Frankfurts OB, Martin Wilke, war als parteiloser Kandidat von einem Wahlbündnis aus SPD, CDU, FDP und zwei Bürgerbündnissen unterstützt worden. Als er 2018 erneut antreten wollte, waren es seine einstigen Unterstützerparteien, die sich gegen ihn stellten. Und der zweite Nachwende-OB in Frankfurt (Oder), Wolfgang Pohl, wechselte vom Neuen Forum zur SPD und regierte zehn Jahre. Eine fest gefügte Parteienlandschaft, in der Mandatsträger, Mitglieder und Wähler über Jahrzehnte oder ein Leben lang die Treue halten, hat es in Frankfurt nach dem Mauerfall nie gegeben. Und was an Verbundenheit da ist, bröckelt.

„Ich glaube, die Parteien müssten ganz neue Wege finden, um die Menschen für sich, ihre Themen und die Politik zu interessieren“, sagt Kandidat Strasser. „Wer hat denn noch Lust auf trockene Parteiveranstaltungen? Junge Leute denken eher in Einzelprojekten und Kampagnen. Und sie sind zunehmend weniger bereit, sich für ihren Einsatz in einer Partei rundschleifen zu lassen.“

Nikolaus Doll berichtet über die Unionsparteien und die Bundesländer im Osten.