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Hunderttausende Veteranen – darunter Zehntausende begnadigte Straftäter – kehren nach Russland zurück. Der Kreml will Gefahren dämpfen.
Moskau – Russland steht vor einer heiklen Demobilisierungsphase im Ukraine-Krieg. Seit 2022 hat der Staat in großem Stil Häftlinge an die Front geholt, viele von ihnen kommen nun – verwundet, traumatisiert oder verhärtet – in die Zivilgesellschaft zurück. Der Kreml versucht, diesen Prozess zu kanalisieren und mögliche soziale Verwerfungen zu vermeiden. Zugleich häufen sich Berichte über schwere Straftaten durch Rückkehrer.
Heimkehr nach dem Krieg – aber willkommen? Rückkehrende Soldaten, viele mit dunkler Vergangenheit, stehen für Putins größtes innenpolitisches Risiko. © Beide Fotos: IMAGO / SNA
Mehrere mit dem Kreml vertraute Personen beschreiben die Rückführung als „potenzielles Risiko“, das „sorgfältig gesteuert“ werden solle, um Destabilisierung zu verhindern. Das berichten Reuters und ABC. Wladimir Putin wertet Veteranen öffentlich als „zuverlässige, vertrauenswürdige Menschen“ und „Teil der echten Elite“. Dennoch arbeitet seine Präsidialverwaltung an Programmen, Posten und Vorgaben, um Reibung zu mindern.
Ukraine-Krieg: Warum Putin die Rückkehr seiner Sträflingsarmee fürchtet
Die Rekrutierung von Gefangenen startete Mitte 2022 zunächst über die Söldnergruppe Wagner. Später übernahm sie auch das russische Verteidigungsministerium. Nach Angaben des ukrainischen Auslandsgeheimdienstes SZRU hatte Russland bis November 2024 zwischen 140.000 und 180.000 Häftlinge eingezogen. Offizielle russische Zahlen sind nicht zugänglich. Schon jetzt dokumentieren Gerichte eine wachsende Zahl schwerer Delikte nach Entlassungen, was die innenpolitische Brisanz erhöht, bemerkt ABC.
Der britische Russland-Experte Mark Galeotti warnt in einer Analyse vor der „Freisetzung oftmals sehr beschädigter und gefährlicher Individuen“ in die Gesellschaft. Die „schweren Folgen im Inland“ seien bereits sichtbar. Der Staat müsse sich systematisch auf Demobilisierung und Kriminalitätswellen vorbereiten.
Zahlen aus Russland: Hunderte Tote durch Rückkehrer aus dem Ukraine-Krieg
Das exilrussische Medium Verstka zählte bereits bis Oktober 2024 „fast 500“ Zivilopfer durch aus dem Krieg zurückgekehrte Soldaten. Darunter mindestens 242 Getötete und 227 Schwerverletzte, besonders häufig seien Frauen betroffen. Ex-Sträflinge fielen demnach häufiger als andere Militärangehörige als Täter auf. Bis heute, ein Jahr später, dürften die Zahlen noch einmal rasant angestiegen sein.
Ein Fall steht exemplarisch: Azamat Iskaliyev, wegen Mordes an seiner Frau zu neun Jahren verurteilt, wurde begnadigt, um in der Ukraine zu kämpfen. Nach seiner Rückkehr erstach er 2024 eine frühere Freundin, ein Gericht verhängte später mehr als 19 Jahre Haft, schreibt die Kyiv Post. Solche Taten nähren die Befürchtung, eine unkontrollierte Rückkehr könne die innere Sicherheit massiv belasten.
Russlands Sträflingsarmee – Zahlen und Hintergründe
Ursprung: Seit Mitte 2022 rekrutiert Russland zunächst über die Söldnergruppe Wagner und später direkt über das Verteidigungsministerium zehntausende Häftlinge für den Krieg gegen die Ukraine.
Versprechen: Wer sechs Monate Dienst überlebt, erhält eine Begnadigung und darf nach Hause zurückkehren – ein Anreiz, den viele auch für Schwerverbrecher nutzten.
Zahlen: Nach Schätzungen des ukrainischen Geheimdienstes SZRU kämpften zwischen 140.000 und 180.000 Gefangene an der Front. Russische Verluste im Jahr 2025 belaufen sich laut geleakten Dokumenten auf über 281.000 Soldaten, darunter rund 8.633 aus Strafanstalten rekrutierte Gefallene. Bis Oktober 2024 sollen fast 500 Zivilisten Opfer von Gewalttaten durch Rückkehrer geworden sein.
Aktuelle Probleme: Viele der Freigelassenen sind traumatisiert, sozial entwurzelt und neigen zu erneuter Straffälligkeit. Russische Behörden versuchen, das mit Sozialprogrammen, Veteranen-Boni und Jobprojekten zu mildern.
Politische Bedeutung: Kreml-Insider sehen in der unkontrollierten Rückkehr ein „potenzielles Risiko“ für Stabilität und öffentliche Sicherheit. Putin steuert diese Entwicklung vorsichtig, um gesellschaftliche Destabilisierung zu vermeiden.
(Die Quellen stammen u.a. von Focus, BR24, Reuters und ukrainischen Geheimdienstangaben, basieren auf geleakten Regierungsdokumenten und investigativen Recherchen, sind jedoch teilweise Schätzungen.)
Politische Steuerung in Putins Russland: Eliteförderung und „Time of Heroes“
Putin treibt parallel Programme voran, die Veteranen in Verwaltung und Politik bringen sollen; dazu zählt die Kader-Schiene „Zeit der Helden“ („Time of Heroes“), die auf Führungsaufgaben im Zivilleben vorbereiten soll, so Reuters. Laut Kreml-Umfeld wird in Ministerien und Regionen an Anreizen, Posten und sozialpolitischen Flankierungen gearbeitet – aus Furcht vor Unzufriedenheit, weil Frontlöhne im Alltag kaum zu erreichen sind.
Gleichzeitig verweisen Analysten, wie etwa Galeotti, darauf, dass Russlands Sicherheitsapparate heute robuster sind als nach dem Afghanistan-Krieg Ende der 1980er-Jahre. Dennoch gilt das Risiko lokaler Gewaltspitzen und Kriminalitätsnetzwerke als real, sollte die Demobilisierung schlecht gemanagt werden.
Innenpolitische Debatte über Ukraine-Rückkehrer: „Jobs in Sibirien“?
Die Debatte in Russland wird breit geführt, wie etwa BR24 analysiert: Blogger und Politologen warnen vor einer „Welle der Gewalt“ und einer „verlorenen Generation“, sollte der Staat keine tragfähigen Perspektiven schaffen. Der Kreml sehe sich in einem Dilemma zwischen Privilegien für Veteranen und daraus erwachsender Zwietracht zwischen Militärs und Zivilisten.
Der einflussreiche Publizist Sergej Karaganow warb dafür, Rückkehrer in große Infrastrukturprojekte in Sibirien zu lenken – Kritiker halten das für autoritäre Sozialingenieurskunst. Die Idee illustriert indes, wie sehr Moskau Beschäftigungspolitik als Stabilitätsanker betrachtet – und wie umstritten die Mittel sind.
Strategische Großwetterlage: Ukraine-Krieg bleibt für den Kreml tragfähig
Der geopolitische Rahmen verschärft das Problem. Ein aktuelles Dossier des Thinktanks Center for Strategic and International Studies (CSIS) attestiert Russland, den Krieg trotz hoher Kosten „auf absehbare Zeit“ durchhalten zu können – mit dem Ziel, die Ukraine langfristig zu zermürben. Moskau halte an Maximalzielen fest und kalkuliere hohe gesellschaftliche Schmerzen ein, solange die Herrschaft nicht gefährdet scheine.
Parallel analysierte der Thinktank CEPA bereits vor wenigen Monaten, dass Russlands Militärdenken stärker auf Konfrontation mit dem Westen, Drohnen- und Kleingruppentaktik sowie ideologische Mobilisierung setzt – mit deutlichen Umsetzungslücken zwischen Theorie und Realität. Für die Demobilisierung heißt das: Der Staat wird Sicherheit priorisieren, auch um den Preis weiterer Repression und Informationskontrolle.
Putins Rückkehrer aus dem Ukraine-Krieg: Was jetzt droht – und was helfen könnte
Experten nennen drei Hebel, um Rückkehrrisiken zu senken: belastbare psychologische Versorgung, berufliche Anschlussfähigkeit und klare Strafverfolgung bei Rückfällen. Doch laut unabhängigen Berichten verweigern viele Betroffene Hilfe oder erhalten sie gar nicht – ein Befund, der die Präventionslücke vergrößert, bemerkt Mark Galeotti.
Gleichzeitig werden die Kriminalstatistiken in Russland nur begrenzt veröffentlicht, Fälle mit Kriegsbezug sind häufig nicht als solche markiert. Beobachter gehen deshalb davon aus, dass die von Verstka erfassten Zahlen eher „die Spitze des Eisbergs“ zeigen. Für den Kreml ist die Rückkehr der Sträflingsarmee damit nicht nur ein moralisches, sondern ein machtpolitisches Problem. (Quellen: Reuters, Australian Broadcasting Corporation/ABC, Verstka, Kyiv Post, BR24, CSIS, CEPA, Global Initiative/Galeotti) (chnnn)