Überfüllte Markthallen, überteuerte Weinbars, Tortellini to go: In Europas Großstädten boomt der Genusstourismus. Doch die „Foodication“ geht oft auf Kosten der Anwohner, die ihre eigenen Viertel nicht mehr wiedererkennen.

Bislang war man in Bologna sehr stolz auf die diversen Beinamen der Stadt – auf den erhabenen „die Gelehrte“ (la Dotta), wegen der uralten Universität; auf den eleganten „die Rote“ (la Rossa), wegen des prächtigen Farbenspiels der Hausfassaden. Und auf den hedonistischen „die Fette“ (la Grassa), wegen der exzellenten lokalen Küche. Doch seit Kurzem gibt es einen neuen Beinamen. Und der ist so gar nicht nach dem Geschmack der Bologneser. Er lautet „Stadt der Schneidebretter“ (Città dei taglieri) und verweist darauf, dass immer mehr Delikatessengeschäfte im historischen Marktviertel zu Imbissbuden mutieren, mit Tischen und Hochtischen die engen Gassen verstopfen und die namensgebenden Bretter mit Aufschnitt und Käse an Touristen verticken.

Das Phänomen trägt den Namen „Foodification“. Der Neologismus leitet sich ab von „Gentrification“ und beschreibt eine Entwicklung, bei der alteingesessene Geschäfte, Handwerksbetriebe, Restaurants, aber auch die Bewohner selbst und mit ihnen organisch gewachsene Strukturen von einem gastronomischen Angebot aus ihren Stadtvierteln verdrängt werden, das sich nahezu ausschließlich an Touristen richtet. Zu beobachten ist es nicht nur in Bologna, sondern auch in vielen anderen europäischen Städten. Darunter Venedig und Florenz, Paris und Lyon, Barcelona und Bilbao, um nur einige zu nennen, die besonders unter der Last des Overtourism ächzen.

Denn naturgemäß handelt es sich bei der Foodification um eine Tochter des Massentourismus. So geben immer mehr Menschen an, dass „kulinarische Erlebnisse“ zu den Hauptgründen zählen, warum sie sich auf Reisen begeben. Laut italienischer Landwirtschaftskammer hat der „turismo enogastronomico“ (das Präfix „eno“ steht hier für Wein) dem Land allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2025  Einnahmen von neun Milliarden Euro eingebracht. Darauf ist man in Italien stolz, wie man überhaupt sehr stolz ist auf die eigene Küche und deren weltweite Beliebtheit.

Dennoch regt sich auch unter Italienern Widerstand. „Es ist schon bald sieben Jahre her, dass wir gemeinsam auf einer Café-Terrasse in unserem Wohnviertel in Turin saßen und uns fragten: Seit wann sind hier rundherum eigentlich nur noch Lokale?“, sagt Marco Perruca. Gemeinsam mit seinem Freund Paolo Tessarin gründete er ein Kollektiv und veröffentlichte mit ihm das Büchlein „Foodification, come il cibo si è mangiato le città“ – auf Deutsch: Wie das Essen die Städte aufgefressen hat. „Es gab Zeiten, da reiste man, um eine Ausstellung oder ein Konzert zu besuchen, und nutzte die Gelegenheit, um danach die lokale Küche zu entdecken“, fügt Paolo Tessarin an. „Heutzutage wird diese erste Etappe einfach übersprungen.“

Das Argument der Aufwertung

Dabei betonen die beiden, dass sich ihre Kritik weniger gegen die Touristen selbst richte, sondern viel mehr gegen die Politik, die diesen Tourismus der Food-Courts, Food-Touren, Coffee- oder Wine-Walks, Streetfood-Festivals und Ähnlichem auch noch mit dem Argument unterstütze, dass er helfen würde, vernachlässigte Viertel aufzuwerten. „In erster Linie bewirkt er, dass dort die Mieten und Immobilienpreise ansteigen, die Menschen sich die Wohnungen nicht mehr leisten können und wegziehen müssen“, sagt Perruca. Stattdessen ziehen Craftbeer-Pubs, Vinotheken mit Weinen aus biodynamischem Anbau und Coffeeshops mit Baristas in Lederschürzen ein – alle mit einem Angebot, das sich die bisherigen Anwohner kaum leisten können.

Ein bezeichnendes Beispiel ist die Stadt Lyon, die sich gerne als die kulinarische Hauptstadt Frankreichs (und also der Welt) versteht. In der weitgehend von alteingesessenen Einwohnern befreiten Altstadt ist die Dichte an vermeintlich „authentischen“ Bouchons, wie die lokaltypische Variante des Bistros genannt wird, inzwischen so hoch, dass für andere Arten von Gewerbe kaum Platz bleibt. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, dass auf den Speisekarten bisweilen auch Käsefondue oder Crêpes stehen, also Gerichte, die mit der lokalen Tradition kaum etwas zu tun haben.

In Dublin wiederum werden sogenannte Pub Crawls angeboten: Schwärme von Touristen stürmen ein Pub, kippen ein Pint Guinness hinunter und eilen dann weiter zum nächsten. Ähnlich große Gruppen drängen sich in den engen, „Bacari“ genannten Lokalen der Aperol-Spritz-Stadt Venedig, um eine „ombra con cicchetto“ zu bestellen – ein Aperitif mit Häppchen, der einst der Inbegriff venezianischer Gelassenheit war. Doch so sehr sich die Venezianer auch darüber beklagen: Das ist noch gar nichts im Vergleich zu den baskischen Städten San Sebastian und Bilbao, wo die Gastro-Touristen längst die Ortsansässigen aus den Pintxo-Bars (die baskische Version der Tapas-Bar) verdrängt haben. In Barcelonas berühmter Markthalle La Boqueria dürfen inzwischen keine Gruppen von 15 oder mehr Personen gleichzeitig eintreten, weshalb manche besonders schlaue Reiseveranstalter die Teilnehmerzahl ihrer Führungen auf maximal 14 Personen begrenzen.

Pizza, Burger, Kebab – etikettiert als „koscher“

Im ehemaligen jüdischen Getto in Rom werden Trattorien mit traditioneller römisch-jüdischer Küche zunehmend von Lokalen verdrängt, die Pizza, Burger, Kebab, Sushi oder alles auf einmal anbieten – und das dann als „koscher“ etikettieren. Und in Turin, Heimatstadt der Buchautoren Perruca und Tessarin, eröffnete im bislang stark von Einwanderern aus Osteuropa und Afrika bewohnten Viertel rund um den Markt Porta Palazzo ein glitzernder Food-Court namens Mercato Centrale. „Das ist ganz typisch für eine Stadtpolitik, die öffentliche Räume zuerst gewissermaßen aufgibt und verwahrlosen lässt, schließlich eine private Firma beauftragt, und diese unterstützt, indem sie soziale Einrichtungen schließt und Parkplätze für Touristenbusse errichtet“, sagt Perruca.

Dass die Foodification nicht nur Europa betrifft, berichtet die „New York Times“. In einem kürzlich dort erschienenen Artikel über das kulinarische Angebot in Mexiko-Stadt beklagt eine Einheimische, dass in ihrer Stadt inzwischen alles voll sei mit „Cocktailbars, Weinbars, Naturweinen und all diesen New-York-Style-Restaurants“. Und dass es irgendwann wohl keine Rolle mehr spielen werde, ob man in New York ist oder in Mexiko-Stadt.

Noch vor wenigen Jahren galt der sogenannte Gastro-Tourismus als etwas durch und durch Positives, dazu geeignet, die regionale landwirtschaftliche Erzeugung sowie die lokale Wirtschaft und Kultur zu unterstützen. Heute aber wirkt es, als sei selbst der Qualitätstourismus zum Opfer des Massentourismus geworden. Das zeigt sich an einem weiteren ortsfremden Trend, der sich neben den inflationären Schneidebrettern in Bologna breitmacht: Immer häufiger werden Tortellini und Tortelloni, die beiden Stars der lokalen Pasta-Küche, in Spitztüten „to go“ angeboten, als handle es sich um Chicken-Nuggets oder Fritten. Auch das steht im Gegensatz zu den Gewohnheiten der mehrheitlich bürgerlich gesinnten Bologneser, die ihre geliebte Pasta wie alle Italiener traditionsgemäß ausschließlich am Tisch und im Sitzen zu sich nehmen.