Geostrategisch unabhängig werden und gleichzeitig das Klima retten: Diese reizvolle Vision trägt seit 2019 die wichtigste politische Strategie der EU. Zuerst unter dem Namen „EU Green Deal“, heißt diese Politik angesichts des Gegenwindes von Industrie- und Wirtschaftsverbänden seit heuer „Clean Industrial Deal“. Im Kern geht es um dasselbe: Europas Schwerindustrien sollen dank pfiffiger Ingenieurskunst, klugen Rechtsrahmens und gezielter Förderungen dekarbonisiert werden. Die Herstellung von Stahl, Zement, Glas und anderen energieintensiven Grundlagen des modernen Lebens soll unter dem Strich bis spätestens 2050 keinen Beitrag mehr zum Klimawandel leisten.

Ein Hoffnungsträger für diese grüne Industriewende steht im schwedischen Norden, ungefähr 100 Kilometer vom Polarkreis entfernt. Auf einem Gelände, das knapp 200 Fußballfeldern entspricht, entsteht hier ein Werk, das eine Patentlösung verheißt: vom grünen Wasserstoff, der Kokskohle beziehungsweise Erdgas ersetzt, über CO2-frei gewonnenes Eisen, das mit Stahlschrott in einem Elektrolichtbogen zu grünem Stahl verarbeitet wird.

„Das Stahlwerk von Stegra in Boden, das vom Europäischen Innovationsfonds unterstützt wird, wird bald das größte Projekt für erneuerbaren Wasserstoff auf der Welt sein“, frohlockte Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, am 7. November 2024. 250 Millionen Euro waren das, hieß es am Dienstag auf Nachfrage der „Presse“. Das Geld stammte nicht aus dem Unionshaushalt, sondern aus den Einnahmen des Emissionshandelssystems.

Parallelen zur Northvolt-Pleite

Ein Jahr später ringt Stegra ums Überleben. Das Unternehmen hat kein Geld mehr. 1,5 Milliarden Euro an Zuschüssen sind erforderlich, damit die Lichter in Boden nicht ausgehen, ehe sie noch überhaupt eingeschaltet wurden, berichtete die „Financial Times“ am Montag unter Berufung auf Personen, die einen Einblick in die Finanzen der Firma haben. Bei einer Vorstandssitzung vor einer Woche fiel das Wort „Insolvenz“. „Die Eigenkapitalinvestoren beginnen zu akzeptieren, dass sie ziemlich sicher ausgelöscht werden“, zitierte die Zeitung einen der Insider.

Wird Stegra dasselbe unrühmliche Schicksal wie ein anderes schwedisches Vorzeigeunternehmen der grünen Industriewende ereilen? Der Batteriehersteller Northvolt (hinter dem anfangs übrigens dieselben Investoren wie bei Stegra standen) erhielt noch Anfang vorigen Jahres jeweils knapp eine Milliarde Euro Kredit von der Europäischen Investitionsbank, und Förderung von der deutschen Bundesregierung. Wenige Monate später musste Northvolt Konkurs anmelden.

Technologien teurer als erwartet

„Die Zweifel am grünen Stahl entstehen durch die Kosten. Wir haben derzeit extrem hohe Gas- und Strompreise“, sagt Axel Eggert, Generaldirektor von Eurofer, dem europäischen Verband der Stahlindustrie. „Zudem sind die Technologien teurer geworden, als man das vor drei oder vier Jahren angenommen hat.“ Im konkreten Fall von Stegra, den Eggert nicht kommentieren wollte, kommt laut „Financial Times“ hinzu, dass das Unternehmen Infrastruktur wie eine Bahnlinie und einen Verladehafen, von denen es gehofft hat, dass andere Unternehmen sie betreiben, selbst managen muss.

Erschwert wird die Lage für klimaneutralen Stahl aus der EU durch die riesigen globalen Überkapazitäten, die natürlich nicht „grün“ produziert werden. „Damit müssen wir konkurrieren. Und grüner Stahl hat nun einmal seinen Preis“, sagt Eggert.

Allerdings ist er vorsichtig optimistisch: „Eigentlich ist alles, was wir brauchen, im Aktionsplan der Kommission vom März beschrieben.“ In dieser Mitteilung kündigte die Brüsseler Behörde unter anderem an, bis Jahresende eine umfassende Novelle für den sogenannten Grenzausgleichsmechanismus vorzulegen. Dieser unter dem englischen Kürzel CBAM geläufige Mechanismus versieht bestimmte energieintensive Produkte wie Stahl und Zement bei ihrer Einfuhr in die EU mit amtlichen Preisaufschlag, wenn sie unter Bedingungen erzeugt wurden, die nicht den hohen Emissions- und Umweltstandards der EU entsprechen.

„Somit muss unsere Konkurrenz von außerhalb der EU auch grün investieren, und zwar weltweit, nicht nur für ihre Importe in die EU“, erklärt Eggert. Er sieht die Gefahr, dass manche Produzenten in Übersee (vor allem in China und Indien) dem Grenzausgleichsmechanismus zu entgehen versuchen werden, indem sie in die EU nur aus ihren emissionsärmsten Werken exportieren, während der Rest ihrer herkömmlichen Produktionsstätten die Weltmarktpreise unverändert drückt. „Es muss sichergestellt werden, dass es keine Umlenkungseffekte gibt“, warnt Eggert.

Schrott und Reifen

Dieser Grenzausgleichsmechanismus wird ab dem Neuen Jahr voll gelten. Die Kommission hat nach einer Testphase im Zuge ihrer Entbürokratisierungspolitik vorgeschlagen, dass Kleinimporteure von CBAM ausgenommen werden. Das betrifft rund 90 Prozent der Importeure, allerdings bleiben 99 Prozent der Emissionen, die mit den weiterhin erfassten Produkten verbunden sind, im System. „Infolgedessen werden die Umweltfolgen eingeschränkt, und es gibt weniger Verwaltungsaufwand“, hielt der Forschungsdienst des Europaparlaments im Mai fest.

Eggert führt drei weitere Faktoren an, die für den Erfolg des grünen Stahls wichtig seien. Erstens müsse die EU danach trachten, dass möglichst viel Stahlschrott in Europa wiederverwertet wird. Derzeit exportiert die EU jährlich rund 17 Millionen Tonnen Stahlschrott. Damit ließen sich laut Eurofer in der EU rund 30 Millionen Tonnen an Rohstoffen und 35 Terawattstunden Strom einsparen: Das entspreche ungefähr dem jährlichen Stromverbrauch Dänemarks. Für den Schrott gibt es allerdings in Staaten mit laxeren Umwelt- und Sozialvorschriften höhere Preise, was seine Ausfuhr betriebswirtschaftlich reizvoll macht. Eine Ausfuhrgebühr für Stahlschrott könnte dies eindämmen.

Zweitens müssten auch Produkte, die viel Stahl enthalten, von CBAM umfasst werden. Eggert führt beispielsweise Autoreifen an, die einen Stahlgürtel haben. Die Kommission hat angekündigt, auch dieses Problem in ihrer CBAM-Reform bis Jahresende anzugehen. Allerdings wird das zu höheren Preisen für solche nachgelagerten Produkte führen.

Und schließlich erhofft sich die Stahlbranche neue Marktanreize für grünen Stahl, allen voran bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Auch hier hat die Kommission bereits angekündigt, entsprechende rechtliche Definitionen im Vergaberecht so zu ändern, dass neben dem Preiskriterium auch andere Fragen wie zum Beispiel die CO2-Intensität von Produkten eine Rolle spielen können sollen.

Andernfalls sehe es für den grünen Stahl aus Europa düster aus, warnt Eggert: „Die Unternehmen wetten derzeit auf die Zukunft. Denn einen richtigen Business Case haben wir bisher noch nicht.“