Stuttgart. Bereits seit 65 Jahren gibt es die Telefonseelsorge Stuttgart. Hier kann jeder anrufen, der sich in einer seelischen Notlage befindet oder einfach jemanden zum Zuhören braucht – anonym, kostenlos und rund um die Uhr. Der Bedarf ist groß. Wie arbeitet die Telefonseelsorge und wie gehen die Mitarbeiter mit schwierigen Themen  um? Leiterin Martina Rudolph-Zeller erzählt von ihrer Arbeit als Telefonseelsorgerin.

 Triggerwarnung : In dem Artikel wird das Thema Suizid angesprochen. Sie haben suizidale Gedanken? Hier finden Sie Hilfe: Anonyme und kostenlose Telefonseelsorge unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222. 

Mechthild Foldenauer und Mathias Hiller in der kleinen Kapelle auf dem Flughafen in Stuttgart.

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Telefonseelsorge Stuttgart: Etwa 13.000 Gespräche im Jahr

Insgesamt 120 Ehrenamtliche arbeiten bei der Telefonseelsorge Stuttgart. „Die Menschen kennen uns, das ist auch ein Vorteil im Helfersystem“ , sagt Martina Rudolph-Zeller. Als Telefonseelsorger oder Telefonseelsorgerin muss man sich in vielen verschiedenen Bereichen auskennen. Jeder kann sich mit jedem Thema melden „von Kindern bis hochbetagten Menschen, die einen schlimmen Schicksalsschlag erlebt haben, einsam sind oder mit ungelösten Konflikten, Selbstbild-Themen oder depressive Phasen zu kämpfen haben: Es gibt wirklich keine Grenzen. Man braucht weder eine Krankenkassenkarte noch eine Diagnose.“

Auch Menschen mit psychischen Erkrankungen nehmen das Angebot in Anspruch. „Es ist schwierig, einen Termin beim Psychiater zu bekommen, deshalb melden sich viele erst einmal bei uns. Wir helfen auch dabei, passende Beratungsstellen zu finden.“ Insgesamt 13.000 Gespräche werden bei der Stelle in Stuttgart im Jahr geführt. „Wenn wir mehr anbieten könnten, wären es noch mehr. Wir kommen gerade so hinterher“, so die Leiterin. Auch die Chat- und Mail-Beratung werden gut angenommen.

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Martina Rudolph-Zeller: „Wir sind geübte Zuhörer“

Rudolph-Zeller ist bereits seit elf Jahren dabei. Sie hat Sozialpädagogik studiert und verschiedene therapeutische Ausbildungen absolviert. Die Mitarbeiter kommen aus ganz verschiedenen Branchen, wie sie erzählt – von Bankkaufleute bis Kfz-Mechaniker. „Manche sind noch berufstätig und arbeiten nebenberuflich bei uns, einige fangen mit dem Eintritt ins Rentenalter an.“

Das Interesse am Menschen und die Bereitschaft, sich den Problemen zuzuwenden, seien dabei essenziell. „Wir sind geübte Zuhörer und nehmen uns wirklich Zeit. Wir bewerten in den Gesprächen nicht, stellen nur offene Fragen und geben auch keine Lösungsvorschläge“, erklärt die Leiterin. Die Erfahrung zeige, dass das Umfeld von Menschen, die eine schlimme Erfahrung gemacht haben, irgendwann ungeduldig wird. Sie verstehen nicht, dass es bei manchen Menschen länger dauert und nicht so schnell abgehakt werden kann. „Da haben wir einfach viel Geduld.“

Gesprächsbedarf ist unabhängig von der Jahreszeit immer groß

Der Bedarf sei unabhängig von der Jahreszeit immer groß. „Depressionen und suizidale Krisen steigen im Frühjahr an.“ Das habe damit zu tun, dass die Stimmung im Winter gut zu dem inneren Empfinden von depressiven Menschen passt. „Wenn es draußen blüht und die Menschen fröhlich sind, draußen sitzen und Eis essen, wird die Diskrepanz zwischen dem Inneren depressiven Erleben und dem Außen größer“, erklärt Rudolph-Zeller. 

„Jeder Kontakt wird in einem Erfassungssystem statistisch erfasst, deshalb können wir ziemlich genau sagen, dass das Thema Einsamkeit eine große Rolle spielt“, sagt Rudolph-Zeller. Die meisten sprechen das zwar nicht direkt aus, das kristallisiere sich aber häufig aus dem Gespräch heraus. Ängste seien mit Corona sprunghaft gestiegen. Auch die politische Unsicherheit mache, vielen Menschen zu schaffen. „Manchen fällt es noch schwerer damit umzugehen als anderen, weil sie schon eine Vorbelastung haben.“ Jeder habe seine eigene Geschichte.

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Es geht nicht darum, eine Lösung zu finden

Im Schnitt sind die Menschen 25 Minuten am Telefon. „Dabei hören wir wirklich komplexe Geschichten oder Konflikte in der Familie, die zum Teil schon jahrelang bestehen. Es kommt schon vor, dass man gemeinsam überlegt, was die ersten kleinen Schritte sein könnten. Hauptsächlich gehe es aber nicht darum, eine Lösung zu finden, sondern den Schmerz und das Leid für eine bestimmte Zeit auszuhalten und mitzutragen.“ Das habe auch etwas Entlastendes und Beruhigendes: Zu wissen, dass man gerade nicht alleine ist. Dabei sei es vor allem wichtig, differenziert und auch zwischen den Zeilen zuzuhören. „Wir spüren die emotionale Situation der Person und zeigen Verständnis.“ 

„Das Maximale was wir aus einem Gespräch rausholen können ist, dass sich die Person emotional beruhigt und verstanden fühlt, sodass sie quasi selbst wieder den Kopf einschalten kann. Wenn man wütend oder traurig ist, kann man nämlich nicht gut nachdenken.“ Das höre man auch an der Stimme, die dann heller und leichter wird. „Manchmal lachen wir auch miteinander.“ 

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Sensibles Thema wie Suizidgedanken

Mitunter werden auch existenzielle Sorgen wie Suizidgedanken offen angesprochen. Für Ratsuchende, wie die Klienten der Telefonseelsorge genannt werden, ist dieser geschützte Raum gerade so wichtig, weil sie ausführlich und offen darüber sprechen können, ohne dass es Konsequenzen mit sich bringt: „Wir sprechen darüber, woher die Gedanken kommen, wie lange sie schon da sind und auch, ob es schon konkrete Pläne gibt?“

Das sei auch für die Ehrenamtlichen nicht einfach, man müsse sich aber vor Augen halten, welche Aufgaben im Verantwortungsbereich der Telefonseelsorge liegen – und wo deren Grenzen sind. „Die Verantwortung lassen wir immer bei der anderen Person. Wir sind nicht die Feuerwehr oder die Polizei und auch keine Mediziner.“

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„Wenn es jemanden so schlecht geht, der sofort Hilfe braucht, aktivieren wir diese über die Rettungsleitstellen.“ Das geht aber nur, wenn die Menschen uns ihre Adresse und ihren Namen sagen.“ Das kommt bei der Telefonseelsorge Stuttgart etwa fünf Mal im Jahr vor. „Im besten Fall ändert die Person ihre Meinung und sagt, ’Ich schaffe es noch eine Weile’ und wenn es nur ein ’Heute nicht’ ist.“