Amerikanische Tomahawk-Raketen sind in letzter Zeit in Washington, Kyjiw und Moskau ein wichtiges Thema. US-Präsident Donald Trump schließt eine Lieferung dieser Waffen an die Ukraine nicht mehr aus, sollte sich Russland einer friedlichen Beilegung des Krieges verweigern. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt, er und Trump hätten telefonisch über die Raketen gesprochen, ohne Details zu nennen.
Demnach würden die Langstreckenraketen helfen, Frieden zu erreichen. „Wir sehen und hören, dass Russland Angst hat, dass die Amerikaner uns Tomahawks geben könnten. Das zeigt, dass diese Art von Druck zu Frieden beitragen kann“, so Selenskyj. Sollten die USA Tomahawks liefern, sagte er am 12. Oktober, würde die Ukraine damit ausschließlich militärische Ziele angreifen.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte zuvor behauptet, Tomahawk-Raketen seien für Russland keine ernste Gefahr, fügte aber hinzu, dass die Lieferung solcher Raketen an die Ukraine eine „absolut neue, qualitativ neue Etappe der Eskalation“ zwischen Washington und Moskau darstellen würde. Sein Pressesprecher Dmitrij Peskow betonte allerdings in einem Interview im russischen Staatsfernsehen, dass mögliche Lieferungen von Tomahawk-Raketen an die Ukraine in Moskau für „äußerste Besorgnis“ sorgen.
Selenskyj wird voraussichtlich am Freitag in Washington mit Trump zusammentreffen. Der ukrainische Präsident betonte, bei dem Gespräch im Weißen Haus werde es um Luftverteidigung und Langstreckenwaffen gehen.
Tomahawk – eine alte, aber bewährte Rakete
Eine Tomahawk-Rakete ist ein hochpräziser, sowohl strategischer als auch taktischer Unterschall-Marschflugkörper mit großer Reichweite. Sie wird in vielen Modifikationen hergestellt, darunter für verschiedene Sprengköpfe, unter anderem auch für nukleare. Man kann sie von verschiedenen Rampen aus starten.
US-Präsident Donald Trump erwägt die Lieferung von Tomahawk-Raketen an die UkraineBild: Evelyn Hockstein/REUTERS
„Die Tomahawk ist eine recht alte Rakete, deren Entwicklung in den 1970er Jahren begann. Ursprünglich entwickelten die Amerikaner sie als Trägerrakete für Atomwaffen in drei Versionen: luftgestützte – für Bomber -, landgestützte und seegestützte“, erläutert der ukrainische Militärexperte Konstjantyn Krywolap im DW-Gespräch. Die Rakete hatte ursprünglich eine Reichweite von bis zu 2500 Kilometern. Als der nukleare Sprengkopf durch einen konventionellen ersetzt wurde, entschied man, dass eine Reichweite von 1600 Kilometern und ein Sprengkopfgewicht von etwa 450 Kilogramm ausreichen. Es gebe aber weiterhin Raketen, die 2500 Kilometer weit fliegen können, betont Krywolap.
Ihm zufolge wurden die bodengestützten Tomahawk-Raketen und die dazugehörigen Startrampen nach der Unterzeichnung des Vertrags über die Beseitigung von Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen (INF-Vertrag) zwischen den USA und der Sowjetunion im Jahr 1987 abgeschafft. Nachdem die USA 2019 während Donald Trumps erster Amtszeit aus diesem Vertrag ausgestiegen waren, wurden viele Startrampen wiederhergestellt. Krywolap glaubt, dass die Ukraine jetzt bodengestützte Tomahawks brauche.
Laut dem Experten besteht die Besonderheit der Tomahawk darin, dass sie ihren Weg in sehr niedriger Höhe unter Berücksichtigung des Geländes bewältigt und Hindernisse umgeht. „Das Wichtigste an dieser Rakete ist ihre Fähigkeit, sehr niedrig zu fliegen. Sie setzt die technischen Entwicklungen am besten um, die es für das Abtasten des Geländes durch einen Marschflugkörper gibt.“ Sie sei im Westen der konventionelle, also nicht nuklear bewaffnete Marschflugkörper mit der größten Reichweite.
Warum Tomahawks für den Kreml ein Problem wären
Die Tomahawk-Rakete wurde 1983 eingeführt. Seitdem haben die USA sie wiederholt bei Militäroperationen eingesetzt – so im Irak, in Libyen und in Syrien. Andrij Kowalenko vom Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation beim Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine weist darauf hin, dass Tomahawk-Langstreckenraketen bei den Kämpfen in Syrien 2017 und 2018 erfolgreich Objekte der russischen Luftabwehr getroffen hätten.
Ihm zufolge fliegt eine Tomahawk mit einer komplexen Navigation, dank der nach ihrer Erfassung durch Radare dem Gegner nur Sekunden Zeit zum Reagieren bleibt. Um diese Rakete effektiv abzufangen, ist ein dichtes Netz niedriger Radare sowie eine sofortige Übermittlung von Zielbezeichnungen und eine synchronisierte Luftabwehr erforderlich. „Russische Systeme deckten damals syrische Objekte ab, waren aber erfolglos. Tomahawks sind besonders effektiv, wenn sie paketweise gestartet werden. Eine Überlastung der Luftabwehr erhöht die Erfolgschancen. Russische S-400- oder Panzir-Systeme sind gegen die Tomahawks schwach“, so Kowalenko.
Die Erfahrungen mit der Tomahawk-Rakete und ihre Eigenschaften bei langen Strecken würden den ukrainischen Streitkräften ermöglichen, wichtige militärische Ziele in Russland in einer Entfernung von 1600 Kilometern zu treffen, sagt der Waffenexperte und Chefredakteur des Militärportals Defense Express, Oleh Katkow, der DW. „Man könnte eine gewisse Anzahl russischer Rüstungsunternehmen zerstören“, betont er.
Wolodymyr Selenskyj will nur militärische Ziele in Russland mit Tomahawk-Raketen angreifenBild: President of Ukraine
Auch das amerikanische Institute for the Study of War (ISW) meint, die Ukraine könnte mit Tomahawk-Raketen tief auf russischem Gebiet wichtige Militäreinrichtungen wie die Drohnenfabrik in Jelabuga in der Teilrepublik Tatarstan oder den Luftwaffenstützpunkt Engels-2 in der Region Saratow erheblich beschädigen oder sogar zerstören. Von dort startet Russland strategische Bomber, die bei massiven kombinierten Angriffen auf die Ukraine luftgestützte Marschflugkörper abfeuern. Insgesamt kommt das ISW auf 1600 bis 2000 militärische Ziele in Russland, die Tomahawks erreichen könnten.
Wie viele Tomahawks könnte die Ukraine bekommen?
Ukrainische Experten fürchten jedoch, dass die Ukraine nicht genug Tomahawk-Raketen erhalten wird, um all diese Ziele zu treffen. Schließlich, so Oleh Katkow, sei unbekannt, wie viele solcher Raketen die USA selbst hätten und wie viel eine Rakete die Ukraine kosten würde. Katkow weist darauf hin, dass Washington der Ukraine derzeit Waffen nur noch verkauft – gegen Geld von den europäischen NATO-Ländern sowie von Kanada über den PURL-Mechanismus (Prioritized Ukraine Requirements List).
Der Preis einer Tomahawk ist hoch und variiert je nach Land, das diese Rakete von den USA kauft. Laut Katkow zahlen die Niederlande für eine Tomahawk 12,5 Millionen Dollar und Japan 4,25 Millionen, was daran liegt, dass Washington Japans Nachbarn China als die größte Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA betrachtet.
„Wenn man ein durchschnittliches Finanzierungspaket im Rahmen des PURL in Höhe von einer halben Milliarde Dollar und den Preis für Japan nimmt, kommt man auf etwa 117 Raketen. Wenn man den Preis für die Niederlande ansetzt, dann sind es deutlich weniger. Die Produktionsrate von Tomahawks aller Modifikationen lag in den letzten Jahren bei etwa 50 Stück pro Jahr. Das ist nicht viel und bedeutet, dass es für die Ukraine definitiv keine Tausenden Tomahawks geben wird, vielleicht nicht einmal Hunderte“, so Katkow. Von der Anzahl der Raketen – sollte die Ukraine sie überhaupt bekommen – würde abhängen, wie Kyjiw sie einsetzen würde und ob die Tomahawks den Verlauf des Krieges ändern könnten.
Tomahawk-Lieferungen als Signal an Putin
Sollte der US-Präsident beschließen, diese Waffen an die Ukraine zu liefern, wäre dies eine direkte Folge von Putins Ablehnung jedes Friedensvorschlags von Trump, meint John E. Herbst, Senior Director des Eurasia-Zentrums beim Atlantic Council und ehemaliger US-Botschafter in der Ukraine.
„Die Hysterie des Kremls in Bezug auf eine mögliche Lieferung dieser Waffen an die Ukraine zeigt, dass dies Einfluss auf Putins Politik haben könnte“, erklärt der Experte im Interview mit der Deutschen Welle. Er glaubt, dass Tomahawk‑Lieferungen den Krieg kaum entscheiden würden. Sie könnten jedoch ein Signal an Putin senden und den Kreml zu Friedensverhandlungen bewegen.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk