
Erst entzog der ukrainische Präsident Selenskyj dem Bürgermeister von Odessa die Staatsangehörigkeit – nun stellte er die Hafenstadt unter Militärverwaltung. Beobachter sprechen von einem Machtkampf.
Mitten im Krieg dominiert in der Ukraine ein innenpolitischer Konflikt die Schlagzeilen. Präsident Wolodymyr Selenskyj und der ihm unterstellte Geheimdienst SBU gehen aktiv gegen den Bürgermeister von Odessa vor – Hennadij Truchanow. Truchanow regiert die Hafenstadt am Schwarzen Meer seit 2014. Nun warf Selenskyj dem Bürgermeister vor, er habe neben der ukrainischen auch die russische Staatsbürgerschaft. Das habe der Geheimdienst SBU ermittelt.
Selenskyj ging sofort noch einen Schritt weiter und entzog Truchanow die ukrainische Staatsbürgerschaft. In einer Video-Ansprache erklärte er: „Ich war heute beim Leiter des SBU, um seinen Lagebericht zu hören. Ich danke dem Geheimdienst, dass er gegen russische Geheimdienststrukturen arbeitet. Wir haben über die Lage in Gemeinden an der Front gesprochen und im Süden unseres Staates, insbesondere in Odessa. Odessa verdient besseren Schutz als bisher – und mehr Unterstützung.“
SBU leitet Militärverwaltung
Selenskyj sprach den Namen Truchanow nicht aus. Trotzdem sollten die Zuhörer verstehen: Truchanow sei gefährlich für Odessa und womöglich mit russischen Geheimdiensten verbunden. Nach dieser Rede unterstellte Selenskyj Odessa einer Militärverwaltung. Und zum Leiter dieser Militärverwaltung ernannte Selenskyj einen hochrangingen SBU-Mitarbeiter.
Dagegen regt sich massive Kritik. Selenskyj mache sich daran, die kommunale Selbstverwaltung in der Stadt auszuhebeln, so Maryna Bojko, Abgeordnete im Stadtrat von Odessa. „Wie das genau ablaufen wird, weiß in Odessa bisher niemand. Der Bürgermeister dürfte auf jeden Fall seine Vollmachten verlieren. Dann müsste eigentlich das ukrainische Parlament entscheiden, ob alle Vollmachten der städtischen Organe an die neue Militärverwaltung übergehen. Wenn das so kommt, wird der Stadtrat entweder aufgelöst. Oder wir werden zu Abgeordneten auf dem Papier, ohne Einflussmöglichkeiten. Niemand hier weiß, worauf wir uns genau einstellen müssen.“
Opposition kritisiert Selenskyj
Maryna Bojko gehört der Partei „Europäische Solidarität“ an. Diese Partei ist im ukrainischen Parlament die größte Oppositionspartei. Aus ihren Reihen kommt immer wieder Kritik an Selenskyj. In Odessa äußert sie aber ebenso Kritik an Noch-Bürgermeister Truchanow, der dort seine eigene, lokale Partei gegründet hat. Bojko meint: Dies sei ein Kampf um die Macht in Odessa.
„Mir scheint, das Vorgehen von Selenskyj ist nicht militärisch notwendig. Das ist politisch motiviert. Es geht wohl darum, Odessa und seinen Haushalt zu kontrollieren. Ich will niemanden ohne Beweise beschuldigen. Aber hier geht es um viel Geld. Es kann sein, dass dies hier darum geht, diese Finanzströme zu kontrollieren.“
Truchanow – eine umstrittene Figur
So sehen es auch viele unabhängige Beobachter. Zur Wahrheit gehört dabei, dass der Noch-Bürgermeister Truchanow eine sehr umstrittene Figur ist. Das Nationale Antikorruptionsbüro hat gegen ihn wegen möglicher Vorteilsnahme ermittelt, das Verfahren läuft noch. Bei der letzten Parlamentswahl vor der russischen Invasion trat Truchanow für eine prorussische Partei an, die inzwischen verboten ist. Zuletzt zog er sich den Unmut vieler Menschen zu, weil bei Überschwemmungen in der Stadt neun Menschen starben. Die Behörden hatten die Menschen viel zu spät vor dem Unwetter gewarnt. Deshalb gab es in Odessa in den vergangenen Tagen Kundgebungen von Bürgern, die das Vorgehen von Präsident Selenskyj feierten.
Truchanow weist unterdessen die Vorwürfe gegen ihn zurück. Er habe nie die russische Staatsbürgerschaft besessen und werde gegen die Entscheidung von Präsident Selenskyj vor Gericht gehen.
