Wie lässt sich der Bürgermeister einer Millionenstadt stürzen? In Odessa: schnell. Am Montag wurde auf dem staatlichen Petitionsportal ein Aufruf an Präsident Wolodymyr Selenskyj veröffentlicht, Odessas Bürgermeister, Hennadij Truchanow, die ukrainische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der Grund: Truchanow habe auch einen russischen Pass, das sei mit ukrainischem Recht nicht vereinbar und in Kriegszeiten eine Bedrohung der nationalen Sicherheit. Innerhalb eines Tages erreichte die Petition das nötige Quorum von 25.000 Unterschriften, ab dem sich der Präsident damit befassen muss.
Am Dienstag veröffentlichte der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU Dokumente, die Truchanows russische Staatsbürgerschaft belegen sollten, darunter die Kopie eines auf ihn laufenden russischen Passes. Kurz darauf verkündete Selenskyj, dass er „einigen Personen“ die Staatsangehörigkeit entzogen habe. Namen nannte er nicht, kritisierte jedoch in seiner abendlichen Videoansprache, dass in Odessa „zu viele Sicherheitsfragen ungelöst“ seien. Um das zu ändern, werde Odessa unter Militärverwaltung gestellt. Am Donnerstag darauf stand Truchanows Bürgermeisterbüro bereits leer.
Truchanow wird seit Jahren eine Nähe zu Russland sowie Korruption vorgeworfen. In der Vergangenheit des Politikers finden sich immer wieder russische Spuren: In den Nullerjahren arbeitete er für den russischen Konzern Lukoil; 2012 zog er für die Partei des damaligen prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch ins Parlament ein und unterstützte zeitweise dessen repressiven Kurs gegen die Demonstranten des sogenannten Euromaidan. 2019, zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre lang im Amt des Bürgermeisters von Odessa, kandidierte er für eine weitere inzwischen verbotene prorussische Partei erneut fürs Parlament. Im selben Jahr erklärte er seine Unterstützung für den proeuropäischen Nachfolger Janukowytschs, Petro Poroschenko. 2022 erhob die Antikorruptionsbehörde Nabu erneut Vorwürfe der unzulässigen Selbstbereicherung gegen Truchanow. Ein undurchsichtiger Politiker, der dennoch in seiner Heimatstadt genug Rückhalt genoss, um zweimal als Bürgermeister wiedergewählt zu werden.
© Lea Dohle
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Doch die Art und Weise, wie Truchanow nun geschasst wurde, könnte sich – glaubt man ukrainischen Oppositionspolitikern – zu einem noch größeren Skandal entwickeln, als die Affären, in die er als Bürgermeister verwickelt war. Denn die Grundlage für seine Absetzung sind die vom SBU vorgelegten Beweise dafür, dass er russischer Staatsbürger sei. Ein wunder Punkt für viele Ukrainer: In Janukowytschs Regierung und vielen Regierungen davor hatten russische Staatsbürger Schlüsselämter inne, was Wladimir Putins Regime die Unterwanderung der Ukraine erleichtert hatte. Dementsprechend schwer wiegt die Anschuldigung. Das Besondere in dieser Situation: Aus mehreren Medienberichten geht hervor, dass das gegen Truchanow gerichtete Material des SBU kein Beweis ist – sondern eine Fälschung.
So hat das exilrussische Investigativportal The Insiderdie Nummer des vom SBU veröffentlichten Passes geprüft. Ergebnis: Er wurde nicht, wie vom Geheimdienst angegeben, im Dezember 2015 ausgestellt, sondern am 2. November 2010 – und nicht an Truchanow, sondern an eine russische Staatsbürgerin, die mit dem Pass mehrfach Auslandsreisen unternahm. Zudem wies The Insider darauf hin, dass die veröffentlichte Kopie einen Fehler bei der
englischen Transkription von Truchanows Vornamen enthalte. Dasselbe berichtet auch der Investigativjournalist Christo Grozev, der seinerseits von russischen Geheimdiensten gejagt wird und kaum Interesse an einer politisch motivierten Kampagne gegen den SBU und Selenskyj haben dürfte.
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Besonders skurril: Sowohl The Insider als auch Grozev betonen, dass Truchanow in der Vergangenheit sehr wohl russischer Staatsbürger gewesen sei. Gleich zwei russische Pässe soll er besessen haben, einer davon 2003, der andere 2011 ausgestellt. Damit decken die Berichte Recherchen von ukrainischen Journalisten aus den Jahren 2015 bis 2018, die im Zuge des Steuerskandals um die sogenannten Panama Papers an Kopien des 2003 an Truchanow ausgestellten russischen Passes gekommen waren. Damals jedoch hatten ukrainische Behörden, darunter der SBU selbst, den Politiker gedeckt und bekundet, er sei nie russischer Staatsbürger gewesen. Auch Truchanow hat die Vorwürfe immer wieder bestritten. Jetzt will er gerichtlich gegen den Entzug seiner ukrainischen Staatsangehörigkeit vorgehen, die er als „Willkür“ kritisiert, und kündigte Klagen notfalls bis in die letzte Instanz an. Als Bürgermeister einer Millionenstadt sei er zudem „strengsten Sicherheitsprüfungen“ unterzogen worden, bei denen keine ausländische Staatsangehörigkeit festgestellt worden sei.
Angesichts der vielen Korruptionsverfahren gegen den Politiker stellt sich die Frage, warum der SBU jetzt ausgerechnet auf eine Fälschung zurückgreift. Umso mehr, als dass es keiner Vorwürfe gegen den Bürgermeister bedarf, um Odessa einer Militärverwaltung unterzuordnen: In mehreren strategisch wichtigen Städten teilen sich die jeweiligen von den Einwohnern gewählten Bürgermeister und von Selenskyj eingesetzte Militärverwalter die Macht, darunter in Kyjiw. Odessa mit seinem für den ukrainischen Agrarexport bedeutenden Hafen wird häufig Ziel russischer Luftangriffe, eine verstärkte Verwaltungshoheit des Militärs wäre damit gerechtfertigt.
Truchanow hätte somit auch ohne Vorwürfe und mit einer glaubwürdigen Begründung faktisch entmachtet werden können. Nun aber ist unklar, wer die zivilen Angelegenheiten der Stadt regeln soll: Vorgesehen wäre dafür Ihor Kowal, Sekretär des Stadtrats von Odessa. Dieser hat sich auch zum geschäftsführenden Bürgermeister ausrufen lassen. Rechtlich ist das problematisch: Ohne ukrainische Staatsangehörigkeit darf Truchanow nicht länger Bürgermeister bleiben, doch formell müsste seine Absetzung vom Stadtrat abgesegnet werden, was dieser jedoch bislang nicht getan hat.
Das könnte wiederum für Chaos sorgen: Sobald Turchanow Klage einreicht, müsste der Entzug seiner ukrainischen Staatsangehörigkeit – Grundlage für die Entmachtung – ausgesetzt werden. Laut einer Einschätzung des ehemaligen ukrainischen Verfassungsrichters, Wolodymyr Schapowal, gäbe es damit vorerst keinen Grund, warum Turchanow nicht Bürgermeister bleiben könne, solange der Prozess läuft. Geklärt ist bislang lediglich, wer die künftige Militärverwaltung Odessas anführen soll: Serhij Lyssak, bislang Militärgouverneur der Region Dnipropetrowsk und Brigadegeneral des SBU, der laut dem Sender BBC gute Verbindungen ins Präsidentenbüro hat.
Nicht nur Oppositionspolitiker sehen darin einen Angriff auf die Demokratie. So zitierte der ukrainische Sender Suspilne Anatolij Boiko, den Leiter einer NGO für Wahlbeobachtung in Odessa, wonach die Absetzung Truchanows einen Präzedenzfall für die Entmachtung weiterer Bürgermeister zugunsten eines zentralisierten Regierungssystems schaffen könnte. Es wäre die „faktische Liquidierung der lokalen Selbstverwaltung“.
Weder Truchanows Staatsangehörigkeit noch seine Korruptionsaffären hätten demnach bislang das Interesse der Sicherheitsbehörden auf sich gezogen. Die ganze Operation habe dem Zweck gedient, eine Militärverwaltung durchzusetzen, sagte Boiko dem Sender Radio Swoboda. Dasselbe werde nach seinen Informationen auch in der benachbarten Großstadt Mykolajiw befürchtet, wo Bürgermeister Oleksandr Senkewytsch ebenfalls womöglich einem Militärverwalter Platz machen müsse. Drastischer äußerte sich der Oppositionsabgeordnete Olexij Hontscharenko, der den ukrainischen Präsidenten seit Langem kritisiert. Selenskyjs Einfluss sei besonders dort schwach, wo Bürgermeister das Vertrauen von Einwohnern hätten. Nun sollten diese eingeschüchtert werden, warf er dem Präsidenten vor. Olexij Potapskij, Fraktionschef der oppositionellen Partei „Europäische Solidarität“ von Selenskyjs Vorgänger Poroschenko in Odessas Stadtrat, sagte dem Sender Suspilne: Selenskyj sei seit sechs Jahren Präsident, „und plötzlich fällt ihm erst jetzt auf, dass Herr Truchanow die russische Staatsangehörigkeit hat“. Die Absetzung des Bürgermeisters sei eine „politische Abrechnung“ und habe „mit Demokratie nichts zu tun“.
Krieg gegen die Ukraine
Donald Trumps Friedensdiplomatie:
Play it again, Donald?
Z+ (abopflichtiger Inhalt);
Treffen zwischen Putin und Trump:
Das war es dann wohl mit den Tomahawks
Z+ (abopflichtiger Inhalt);
Andrij Melnyk:
„Putin wird viel früher all-in gehen“
Dass die ukrainische Opposition den Skandal für sich nutzt, um Unmut über Selenskyj zu äußern, ist wenig überraschend. Doch man muss ihr nicht blind vertrauen, um auf die Idee zu kommen, dass es tatsächlich eine Kampagne des Präsidentenbüros gegen einflussreiche Bürgermeister gibt. In Kyjiw etwa steht Bürgermeister Vitali Klitschko, ein Gegner Selenskyjs, seit Monaten im Dauerstreit mit der Militärverwaltung. Nach jüngsten russischen Angriffen auf die Hauptstadt, bei denen Hunderttausende Einwohner zeitweise den Stromzugang verloren, schoben sich Klitschko und die Militärverwaltung gegenseitig die Verantwortung für den mangelnden Schutz der Infrastruktur in Kyjiw zu. Selenskyj stellte sich dabei auf die Seite des Militärs und gegen Klitschko, der dem Präsidenten seit Langem autoritäre Tendenzen vorwirft.
Flankiert wird der Streit von Stimmungsmache in Telegramkanälen mit teils Hunderttausenden Followern, die für die Politik des Präsidentenbüros werben. Einige von ihnen sollen zu einem Netzwerk gehören, das direkt vom Präsidentenbüro gesteuert wird, wie das exilrussische Onlineportal Meduza im vergangenen Jahr aus Kreisen der Regierungsbehörde erfahren hatte. Klitschko und Truchanow wurden in diesen Kanälen in der vergangenen Woche mehrfach beschimpft. Einer von ihnen sagte bereits eine Woche vor der Absetzung Truchanows voraus, dass dessen politische Karriere angeblich bald enden werde. Außer ihm aufgelistet: Mykolajiws Bürgermeister Senkewytsch und Klitschko. Ein weiterer Kanal, laut dem Meduza-Bericht von 2024 ebenfalls Teil des Pro-Selenskyj-Netzwerks, schrieb nach Truchanows Entmachtung: „Odessa trinkt heute Champagner. Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch Kyjiw feiern wird.“

© Valentyn Ogirenko/Reuters
1332 Tage
seit Beginn der russischen Invasion
Das Zitat: Europas Platz
Kurz vor dem Treffen mit Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus hat Donald Trump mit Wladimir Putin telefoniert und ein Treffen mit dem russischen Präsidenten vereinbart – in Budapest. Damit scheiterte Putin zwar mit seiner Einladung an den US-Präsidenten nach Moskau – dort wolle er ihn demnächst sehen, sagte er im August zum Abschluss des Gipfels mit Trump in Alaska – und verbucht dennoch schon mit der Wahl des Ortes einen diplomatischen Erfolg.
Denn mit einem Treffen in Budapest würden Trump und Putin sowohl die Ukraine als auch die EU brüskieren, argumentiert der britische Historiker Sergey Radchenko. Schließlich regiert dort Viktor Orbán, der immer wieder europäische Initiativen für Sanktionen gegen Russland und mehr Unterstützung für die Ukraine blockiert. Zudem demonstriere Putin die Wirkungslosigkeit des vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen ihn ausgestellten Haftbefehls, wenn er mit Rückendeckung des US-Präsidenten einen offiziellen Termin in einem EU-Land abhält.
Trotz der demonstrativen Abgrenzung europäischer Regierungschefs von den Gesprächsangeboten Trumps an Putin würden sie damit deklassiert, kommentierte Radchenko auf X: „Putins Hauptziel ist es, die USA und Europa zu spalten (worin er nicht schlecht ist), Europa zu demütigen (was ihm sehr gut gelingt) und Zeit in der Ukraine zu gewinnen.“ Weiter schrieb er:
Derweil werden die Europäer weiterhin das tun, worin sie so gut sind: irrelevant sein.

Was jetzt? – Der Nachrichtenpodcast:
Drittes Treffen, neue Waffen? Selenskyj im Weißen Haus
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Unterm Radar: Putin greift nach Reservisten
Russische Reservisten könnten künftig auch im Ausland eingesetzt werden dürfen – und damit auch im Krieg gegen die Ukraine. Die Regierung in Moskau hat laut russischen Medienberichten einen entsprechenden Gesetzentwurf des Verteidigungsministeriums gebilligt. Demnach sollen Mitglieder der sogenannten aktiven Reserve auch zu Friedenszeiten zum Dienst herangezogen werden. Da Wladimir Putin mit dem Angriff auf die Ukraine keinen Kriegszustand verhängt hat, war dies bisher ausgeschlossen. Auch eine Mobilisierung, wie sie Putin etwa im Herbst 2022 ausgerufen hatte, wäre dafür nicht mehr nötig, sollte die Staatsduma das Gesetz billigen.
Alexej Schurawljow, der stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Parlament, bezifferte die Zahl der Betroffenen auf bis zu zwei Millionen Männer. Angehörige der Reserve würden nun „in deutlich mehr Fällen als bisher“ zum Dienst gezogen, kündigte er an. Bei der aktiven Reserve handelt es sich nicht um alle ehemaligen Wehrdienstleistenden, sondern um Männer, die sich in den vergangenen Jahren vertraglich dazu verpflichtet haben, regelmäßig an militärischen Übungen teilzunehmen – gegen ein Entgelt, das deutlich geringer ist, als Russland aktiv in der Ukraine kämpfenden Soldaten zahlt.
„Unsere Lieben. Unsere Helden. Schütze euch Gott!“: Fotos russischer Soldaten neben einer Sammelstelle für Spenden ans Militär in St. Petersburg © Anton Vaganov/Reuters
Das könnte nach Ansicht des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW)
ausschlaggebend für die Reservereform sein: Bislang lockt das Militär
Männer mit hohen Rekrutierungsprämien in den Kriegseinsatz. Die Prämien
jedoch werden nicht vom Staat, sondern aus den Budgets der Regionen
bezahlt. Einige Regionen jedoch haben in den vergangenen Wochen Medienberichten zufolge die Zahlungen, mutmaßlich aus Geldmangel, teils drastisch gesenkt – etwa von umgerechnet fast 30.000 auf 4.000 Euro in mindestens vier Regionen.
Das ISW hebt in seiner Einordnung der Reform hervor, dass bereits früheren Prognosen zufolge das bisherige Rekrutierungsmodell ab kommendem Jahr an seine Grenzen gelangen könnte. Dass tatsächlich zwei Millionen Reservisten an die Front in der Ukraine geschickt würden, erwarten die Experten hingegen nicht: Das würde den Arbeitsmarkt stark belasten und die Kapazitäten des russischen Militärs überfordern. Zudem sieht der Gesetzentwurf vor, dass die Einsätze der Reservisten maximal zwei Monate dauern dürfen. Wahrscheinlicher sei eine Art dosierter Einsatz, der den Staat weniger Geld koste als die bisherige Anwerbung und eine politisch weniger riskante Alternative zu einer neuen Mobilmachung darstellen würde.
Den Rückblick auf die vergangene Woche finden Sie hier.
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