Knapp 160 Kilometer fährt Bernd Nehrdich in den Wilden Westen. Dort sitzt er, von feinem Nieselregen geschützt, mit den anderen Cowboys zusammen. Sie schmieren sich Brote mit Leberwurst aus der Plastikverpackung. Ihre Prärie: eine rund 17.000 Quadratmeter große Fläche im Naturschutzgebiet Seckbach. Schlamm statt Steppe. „Das sind keine Schönwetter-Cowboys“, sagt einer und deutet auf die Männer, die Baumstämme zu einer Zaunlücke tragen, vorbei an den vielen Holzhütten und USA-Flaggen. In Cowboyhut und Kapuzenpullover sägt ein älterer Mann konzentriert einen Baumstamm in Scheiben.

Zwei andere Vereinsmitglieder befestigen sie mit dem elektrischen Akkuschrauber an der richtigen Stelle. Immerhin soll die Ranch vorzeigbar sein. Wenn nicht für das nächste Monatstreffen, dann für das anstehende Jubiläum.

Hier müssen Cowboys leben. Der Rinderschädel weist den Weg zur Hammer Ranch im Frankfurter Stadtteil Seckbach.Hier müssen Cowboys leben. Der Rinderschädel weist den Weg zur Hammer Ranch im Frankfurter Stadtteil Seckbach.Michael Braunschädel

Der Westernklub Hammer Ranch feiert bald sein sechzigjähriges Bestehen. Die Ranch liegt auf geteiltem Boden: Eine Hälfte gehört der Evangelischen Kirche, die andere den Vereinsmitgliedern. Gegründet wurde sie 1966 – als die meisten Deutschen nur über Romane von Friedrich Gerstäcker, James Fenimore Cooper oder Karl May Zugang zum „Wilden Westen“ fanden.

Aus dem Bergmann wird ein Cowboy

„Obwohl Karl May nie in Amerika gewesen ist, der alte Knacki“, sagt Bernd Nehrdich, erster Vorsitzender der Hammer Ranch, den hier alle „Tex“ nennen. Er trägt weder Cowboyhut noch Cowboystiefel. Stattdessen eine rot karierte Weste, einen schwarzen Hut und ein Leinenhemd mit Stehkragen. Das besitze er seit dreißig Jahren. „Wenn der Bernd sieht, dass jemand ein gleiches Hemd anhat, dann geht er sich gleich umziehen“, sagt ein Cowboy und lacht dabei.

Als „einfacher Südstaaten-Cowboy“ verstehe er sich, erzählt Nehrdich. Er war aber auch schon einmal als Wikinger unterwegs oder hat sich in der Mittelalterszene bewegt. Beides wurde ihm aber zu kalt. „Im Mittelalter hätte ich ja keinen Ofen haben dürfen“, sagt er. Der sei erst später, während der Kleinen Eiszeit, in die Häuser gekommen. Sein Haus in Thüringen sei „von oben bis unten“ dem 19. Jahrhundert nachempfunden. Die 300 Jahre alten Balken stammen aus einem abgerissenen Gradierwerk. „Wenn man in das Haus reingeht, denkt man, man ist in irgendeiner Blockhütte drin.“

Bernd Nehrdich posiert im Saloon mit einem nachgebildeten Unterhebel-Luftgewehr. Er ist der erste Vorsitzende der Hammer Ranch.Bernd Nehrdich posiert im Saloon mit einem nachgebildeten Unterhebel-Luftgewehr. Er ist der erste Vorsitzende der Hammer Ranch.Michael Braunschädel

Nehrdich ist seit 2009 Mitglied des Westernklubs Hammer Ranch. 40 Jahre hat er als Bergmann im Untertagebau gearbeitet, hat Kalisalz in Thüringen abgebaut. Seit neun Jahren ist er nun in Rente. Zur Ranch kam er über Umwege. In seiner Heimat habe es auch einen Westernklub gegeben. Aber dort hätten die anderen ihren Cowboyhut in Plastiktüten zu Veranstaltungen getragen und ihn erst auf dem Gelände aufgesetzt. Anders Nehrdich: „Im vollen Outfit, mit Sporen, bin ich durchs Dorf geklappert und habe noch meine Dekowaffen an der Seite gehabt.“ 2006 traf Nehrdich dann beim internationalen Vorderladerschießen in Schweden jemanden mit dem Spitznamen „Big Bear“. Der habe ihn nach Frankfurt eingeladen. „Da waren hier ein paar Hundert Indianer, alle im Outfit, mit Musik, mit Trommelgruppen.“ Er habe gefragt, ob er zur Versammlung kommen dürfe. Nach einer Probezeit wurde er aufgenommen. Seitdem ist er dabei, pendelt regelmäßig zwischen seiner Familie und der Ranch hin und her.

„Am schönsten ist es, wenn wir abends dann irgendwo sitzen. Jeder hat seinen Jacky, Wein oder Bier, und dann wird philosophiert über Waffen, über die Geschichte.“ Er macht eine kurze Pause. Dann kommt der Witz, den er vor ein paar Tagen gehört hat: „Treffen sich zwei Cowboys“, sagt er. „Beide tot.“

Derzeit hat der Verein 70 aktive Mitglieder. Cowboys, Trapper, manchmal auch ein Pinkerton – Agenten einer Detektei, die im 19. Jahrhundert unter anderem Präsidenten schützten. Sie alle kommen auf der Ranch oft im Saloon zusammen, der beim ersten Betreten nach altem Holz und Leder riecht. Die Holzdielen geben mit jedem Schritt ein gedämpftes Knarren von sich. Sie sind größtenteils mit orientalischen Teppichen bedeckt. Ein bisschen dämmrig ist es in dem Saloon, was an der dunkelbraunen Holzverkleidung und den Holzbalken liegt. Von diesen hängen leere Flaschen herab. Bär- und Büffelköpfe ragen von den Wänden. Auf dem Kamin steht „Rogar y Combatir“, spanisch für „Beten und Kämpfen“. Ein hellbrauner Ledersattel liegt locker über einem Holzgeländer auf der pferdelosen Ranch.

Line-Dance und Musikabende im Saloon

Einige der Mitglieder seien schon altersbedingt ausgeschieden, „manche verstorben“, so Nehrdich. Die „In Memory“-Ecke des Saloons widmet sich jenen Verstorbenen. Dort hängen neben einem Kruzifix eingerahmt ihre Fotos, viele von ihnen haben sich mit Cowboyhut und Stiefeln ablichten lassen. Im Regal daneben stehen neben einer großen Sammlung an ledergebundenen Büchern 49 Time-Life-Bände über den Wilden Westen.

In den Saloon kommen regelmäßig die Countryfreunde Rhein-Main für Line-Dancing-Abende. Oder es treffen sich Musiker, die ihre Gitarren und sogar ihr Schlagzeug mitbringen. „Wir machen hier quasi querbeet alles“, sagt Nehrdich. „Außer Schlager.“ Er höre auch Oper, auch Konzerte, sei Fan des niederländischen Violinisten André Rieu. „Aber am liebsten höre ich Ozzy Osbourne.“

Die Handelsstation nebenan platzt fast aus allen Nähten. Von der Decke hängen Felle von Dachs, Iltis und Wiesel. Viele stammen laut Nehrdich aus dem Fundus von Bekannten und Freunden. Einige der Felle sind mehr als 30 Jahre alt. Nehrdich ist zwar Sportschütze, jagen wolle er aber nicht, wie er sagt. „Bei einem Tier, das mir nichts getan hat, bringe ich es nicht übers Herz.“ In der Handelsstation fallen auch die getrockneten Maiskolben sowie von der Decke herabhängende Würste ins Auge.

In der Handelsstation hängen Plastikwürste neben Fuchs- und Iltisfell.In der Handelsstation hängen Plastikwürste neben Fuchs- und Iltisfell.Michael Braunschädel

Beim näheren Betrachten wird klar, dass es sich um Plastikwürste handelt – die einzige Fälschung auf der Ranch, wie Nehrdich versichert. Alles in der kleinen Hütte sei käuflich oder tauschbar. Außer natürlich das, was „Krümel“ gehöre, dem Koch der Ranch, der seinen bürgerlichen Namen mit Betreten des Geländes ablegt. „Der schläft manchmal da hinten“, sagt Nehrdich und deutet auf ein unscheinbares Bett in der rechten Ecke. Krümel verbringe den größten Teil seiner Freizeit hier.

Das heutige Amerika ist ihnen fremd

An der Wand hängen Schneeschuhe aus Leder und eine weiße Zeremoniehaube der Apachen, ein großes hölzernes Kopfstück mit eingestanzten geometrischen Formen. „Hier hängt irgendwo ein Gewehr an der Wand“, sagt Nehrdich. „Das habe ich von einem Verstorbenen geerbt.“ Er zieht aus dem Durcheinander ein langes Vorderladergewehr. „Das ist extra dafür gebaut worden, die Indianer zu betrügen.“ Um Gewehre zu erwerben, hätten diese nämlich so viele Felle eintauschen müssen, dass sie gestapelt exakt die Höhe des Gewehrs erreichten. Das nachgebaute „Tower“-Gewehr, das Nehrdich in der Hand hält, sei absichtlich länger gebaut worden. „Die Indianer sind nur betrogen und belogen worden.“

An einer Hütte hängt neben einer Mexiko­flagge auch eine Konföderiertenflagge, die in den USA bis heute als umstritten gilt, weil sie für viele mit Rassismus und Sklaverei verbunden ist. „Texas war Südstaat“, so Nehrdich. „Wir stellen die Geschichte Amerikas nach – und da gehört der Bürgerkrieg eben dazu.“ Von Diskriminierung jeglicher Art distanziere sich die Ranch.

Authentizität ist Nehrdich wichtig. Die Karl-May-Filme mit Pierre Brice als Winnetou? „Das ist Quatsch.“ Der Häuptling der Apachen habe ein besticktes Hemd angehabt, das sei aber gar nicht von den Apachen, sondern von den Sioux gewesen. „Hätten die nie gemacht in der Realität. Die waren ja miteinander verfeindet.“

KI-Artikelchat nutzen

Mit der kostenlosen Registrierung nutzen Sie Vorteile wie den Merkzettel.
Dies ist
kein Abo und kein Zugang zu FAZ+
Artikeln.

Sie haben Zugriff mit Ihrem Digital-Abo.

Vielen Dank für Ihre Registrierung




Den „Schuh des Manitu“ finde Nehrdich hingegen ganz wunderbar. „Der macht das bewusst, das Persiflieren“, sagt er über Regisseur Michael „Bully“ Herbig. „Der legt überhaupt keinen Wert auf Authentizität, und deswegen lachen wir drüber.“

Das Westernhobby habe aber nichts mit dem heutigen Amerika zu tun. „Mit dem würden wir nicht zurechtkommen“, so Nehrdich. Einer der beiden US-Amerikaner im Verein sei mehrfach im Krieg gewesen, mehrfach verwundet. Nach seinem Dienst sei er nach Amerika zurückgekehrt. Nach knapp einem Jahr habe er seine Sachen wieder gepackt und sei nach Deutschland zurückgekommen. Er sei mit dem Menschenschlag nicht mehr zurechtgekommen. Jetzt lebe er hier, habe eine Firma aufgebaut und sei inzwischen Rentner, so Nehrdich. „Feiner Kerl, spielt auch Musik.“

Eine Ranch ohne Pferde

Die Ranch scheint für viele wie eine Flucht aus der Realität. „Wenn wir hierherkommen, schalten wir ab“, sagt Nehrdich. „Da will ich ja nicht wissen, was der Trump jetzt wieder ausgeheckt hat.“ Aber ein wenig politisch wird er dann doch: „Dass die Amerikaner das mitmachen, dass die nicht merken, dass das ein Schwachsinniger ist, begreife ich nicht“, sagt er. Das Jahr 2025 dringt also doch durch die Ritzen des 19. Jahrhunderts.

Die eigentliche Arbeit eines Cowboys, etwa Vieh zu hüten, habe er nie gemacht. Doch zumindest Pferde habe es hier auf der Ranch bis vor einigen Jahren noch gegeben. „Wo jetzt die Getränke aufbewahrt werden, das war früher die Sattelkammer, der Pferdestall“, sagt Nehrdich. Er selbst habe einige Jahre Pferde gehalten. „Eine wunderbare, schöne Zeit“, sagt er. „Aber mit sehr viel Arbeit verbunden.“ Beim Westernreiten und auf den vielen Wanderritten sei er auch mehrfach vom Pferd gestürzt. „Es hat halt dazugehört.“ Die Pferde sind weg. Zu viel Arbeit, zu teuer.

Doch auch ohne Pferde und Rinder fällt noch immer viel Arbeit an. Die Bäume verlieren ihr Laub, die Blätter müssen zusammengefegt und entsorgt werden. „Dann liegt hier eine halbe Tonne im Laden“, sagt Nehrdich. Nächste Woche soll eine neue Gasheizung eingebaut werden. Stromkosten müssen bezahlt, die Toiletten geleert werden. „Das ist, als hätte ich hier ein eigenes Haus“, sagt Nehrdich. „Wir müssen uns um alles selbst kümmern.“ Nur, dass dieses Haus irgendwo zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert steht – und eben nicht im Wilden Westen, sondern mitten in Frankfurt.