Sein Vater war ein gewalttätiger Alkoholiker, der die Familie früh verlassen hatte. Aber David Lammy schaffte es an die besten Universitäten der Welt, wurde Aussenminister – und pflegt eine rätselhafte Freundschaft mit J. D. Vance.

David Signer, London14.09.2025, 05.30 UhrDavid Lammy am Eingang der Downing Street 10 in London kurz nach seiner Ernennung zum Vizepremierminister am 2. September.David Lammy am Eingang der Downing Street 10 in London kurz nach seiner Ernennung zum Vizepremierminister am 2. September.

Andy Rain / EPA

Eine grosse Rochade hat den bisherigen Aussenminister David Lammy ins Amt des Vizepremierministers befördert. Zugleich wechselt er ins Justizministerium. Premier Keir Starmer stellte sein Kabinett um, nachdem seine Stellvertreterin Angela Rayner über eine Steueraffäre gestolpert war. Neue Aussenministerin ist Yvette Cooper. Ihren bisherigen Posten als Innenministerin übernimmt die bisherige Justizministerin Shabana Mahmood.

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Rayner und Lammy als Brücken zur Arbeiterklasse

Lammy wird durch die Kabinettsumbildung zugleich zurückgestuft und befördert. Als Aussenminister spielte er eine zentrale Rolle bei den Verhandlungen mit Trump, beim Ukraine-Krieg und beim Nahostkonflikt; in den letzten Wochen sorgte er mit scharfer Kritik an der israelischen Regierung wegen des Gaza-Krieges für Aufsehen. Als Justizminister wird er fortan weniger im Scheinwerferlicht stehen. Aber als Stellvertreter von Starmer ist er noch weiter ins Machtzentrum vorgerückt.

Wie seine Vorgängerin Rayner stammt Lammy aus der Unterschicht und kann glaubhaft für die ärmeren Briten sprechen. Der 53-Jährige hat einen weiten Weg zurückgelegt von seiner Kindheit in prekären Verhältnissen im Londoner Viertel Tottenham bis zur Nummer zwei Grossbritanniens. Seine Eltern stammten aus Guyana. Der Vater war Tierpräparator – und ein Alkoholiker, der seine Frau regelmässig verprügelte. Lammy erinnert sich, wie er sich jeweils im Schlafzimmer versteckte und sich die Ohren zuhielt. «Da, wo ich aufwuchs, war das alltäglich», sagte er später. «Niemandem wäre es in den Sinn gekommen, die Polizei zu rufen.»

Eines Tages sagte der Vater dem zwölfjährigen Lammy am Bahnhof, er liebe ihn, er solle gut auf seine Mutter aufpassen, und gab ihm einen Abschiedskuss. Dann sah Lammy ihn nie wieder. «Es war verheerend», sagte er in einem Interview. «Wahrscheinlich habe ich mir selbst die Schuld gegeben. Ich fragte mich, ob er mich überhaupt liebte.» Seine Mutter brachte die fünf Kinder alleine durch, und Lammy musste ihr schon früh bei Briefen und Behördengängen helfen. Er hatte stets Angst, in ein Heim gesteckt zu werden. Als er dreissig Jahre später erfuhr, dass sein Vater – mittellos in den USA – im Sterben lag, ging er nicht hin. Er sprach in Interviews auch von seiner Therapie und davon, dass er ein Antidepressivum gegen seine Angstzustände genommen habe.

Jeden Morgen zieht er seine Rüstung an

Aber mit zehn Jahren erhielt Lammy eine unerwartete Chance. Er gewann ein Stipendium für die Chorschule der Kathedrale von Peterborough. Wie er später erzählte, war er der einzige Schwarze in einem Schlafsaal mit 15 Knaben, und als Einziger wusste er nicht, wie man korrekt mit Messer und Gabel umging. Immerhin wurden sie alle, ohne Rücksicht auf Hautfarbe und Herkunft, regelmässig vom Rektor verprügelt.

Lammy ging zum Jurastudium zurück nach London und anschliessend an die Law School der Harvard-Universität. Er war der erste schwarze Brite, der das schaffte, und freundete sich mit Barack Obama an. Im Jahr 2000 wurde er für den Wahlbezirk Tottenham ins Unterhaus gewählt, wiederum im rekordverdächtigen Alter von 27. Von 2005 bis 2007 war er unter Tony Blair Kulturminister, 2024 wurde er Starmers Aussenminister. In einem Interview sagte er kürzlich: «Zum ersten Mal in meinem Leben leide ich nicht am Hochstaplersyndrom. Ich habe das echte Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.»

Für einen Spitzenpolitiker äussert Lammy sich aussergewöhnlich offen. Über seine Frau Nicola Green sagte er gegenüber dem «Guardian»: «Sie hilft mir am Morgen, meine Rüstung anzulegen, wenn ich aus dem Haus und ins öffentliche Leben gehe.» Er sagt von sich, er wirke zwar extrovertiert, sei aber eigentlich schüchtern und unbeholfen. Kurz nach den ersten Dates mit Green lud er sie 2004 zu einer Karibik-Ferienreise ein. Weil er im Vorstand der NGO Action Aid war, stoppten sie als Erstes in Haiti, das damals unter den Folgen eines Staatsstreichs, eines tropischen Sturms und eines Erdrutschs mit 2400 Toten litt. Es sei schrecklich gewesen und alles andere als eine Liebesreise, sagte er später. Aber Green war beeindruckt. Ein Jahr später heirateten sie und haben inzwischen zwei Söhne und eine adoptierte Tochter.

Feine Grenze zwischen diplomatischer Flexibilität und Verrat

Trotz seiner Offenheit fragt man sich manchmal, was Lammy wirklich denkt. So bezeichnete er Donald Trump noch vor ein paar Jahren als «Tyrannen», «Frauenhasser», «Soziopathen, der mit Neonazis sympathisiert» und «gefährlichen Clown». Dann lud ihn Trump letztes Jahr, zusammen mit Premierminister Keir Starmer, in sein New Yorker Penthouse zum Abendessen ein. Es war die Zeit des Wahlkampfs, kurz nach dem versuchten Attentat auf Trump. «Er war ein liebenswürdiger Gastgeber», sagte Lammy über den Besuch. «Er tat alles, damit wir uns wohl fühlten.» Zugleich habe er sich gefragt, wie es Trump wohl gehe. «Er war offensichtlich erschüttert, besessen von dem Vorfall. Er hatte bestimmt eine posttraumatische Belastungsstörung, deren Verarbeitung Jahre dauern kann.» Die meisten anderen hätten sich nach so einer Erfahrung eine Auszeit genommen, aber Trump habe sich nicht damit aufgehalten und einfach weitergemacht, sagte Lammy mitfühlend und bewundernd.

Manche würden sagen, seine diplomatische Art zeuge von Professionalität, manche werfen ihm Opportunismus vor. Das gilt auch beim Thema Brexit. Lammy war ein vehementer Gegner des EU-Austritts; heute unterstützt er ihn. Am meisten Erstaunen löst allerdings sein Verhältnis zum amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance aus. Auf den ersten Blick kann man sich kaum gegensätzlichere Persönlichkeiten vorstellen. Hier der schwarze, linke, sozial und multikulturell eingestellte Lammy, ein respektvoller Zuhörer, immer auf Ausgleich und Brückenbau bedacht, da der rechte Polterer Vance, ein scharfer Kritiker der illegalen Migration, der gerne austeilt, provoziert und Grossbritannien «das erste islamistische Land mit einer Atombombe» nannte. Aber beide erklären öffentlich ihre Freundschaft, und Anfang August verbrachten Vance und seine Familie sogar einen Teil ihrer Ferien bei den Lammys in England, wo sie zusammen fischen gingen.

Zum ersten Mal begegneten sich die beiden 2022 in Washington. Vance war gerade zum Senator von Ohio gewählt worden, während Lammy noch in der Opposition war. Seit damals trafen sie sich regelmässig. Offenbar verbindet sie unter anderem der christliche Glaube. Sie besuchten auch schon zusammen die Messe. Lammy erklärte, dass sie beide nicht nur aus der Arbeiterklasse, sondern auch aus dysfunktionalen Familien stammten. Vance beschrieb seine Kindheit mit einer drogenabhängigen Mutter in seinem Bestseller «Hillbilly Elegy». Schon 2020 schrieb Lammy über das Buch: «Es veränderte meine Sicht auf Trump, die weissen Arbeiter und die Republikaner. Oberflächlich betrachtet, ist die Welt, die er beschreibt, ganz anders als die innerstädtische Armut, in der ich aufwuchs, aber die Empathie in Vance’ Buch zeigte mir, was wir gemeinsam haben.»

Immer wieder wird suggeriert, Lammys Freundschaft mit Vance beruhe nicht auf Sympathie, sondern sei Teil der Strategie, ein gutes Verhältnis zu den amerikanischen Republikanern aufzubauen. Vielleicht stimmt beides: Es gibt eine gewisse Verbindung, doch zugleich verfügt Lammy über das Einfühlungsvermögen, die kommunikative Kompetenz sowie die intellektuelle Flexibilität eines Diplomaten. Dadurch kann er solche Beziehungen auch politisch nutzen. So jemand ist für den hölzern wirkenden Starmer Gold wert.