In der Grauzone zwischen freundlich und bedrohlich: Eine 16 Meter hohe Kasper-Figur stapfte mit resoluten Schritten über den Esslinger Rathausplatz. Foto: Simone Weiß
Witzig, spritzig, sympathisch, schelmisch: Nein, dieser Kasper ist anders. Eine 16 Meter hohe Figur stapfte mit einer Fliegenklatsche über den Esslinger Rathausplatz.
Am Anfang war der Sound. Ein Surren, Summen, Brummen. Laut. Und immer lauter. Fast ohrenbetäubend. Dann krabbeln Fliegen über den Esslinger Rathausplatz. Sehr akrobatisch. Die Menschen in den Kostümen können allenfalls vermutet werden.
Die Fliegen vermehren sich rasant. Werden immer mehr. Fast spielerisch richten sie eine leblose, am Boden liegende Hülle auf, zupfen sie zurecht, füllen sie mit Luft. Damit besiegeln sie ihren eigenen Untergang. Denn bei der Performance von Regisseurin Stefanie Oberhoff und ihrem Team im Rahmen des 70. Geburtstages des Esslinger Puppenspielertreffs am Samstagnachmittag bekamen die Fliegen eine Riesenklatsche.
Am Anfang war der Kasper noch eine leblose Hülle: Das Stück „Der Kasper schlägt die Fliegen tot“ wurde im Rahmen des 70. Geburtstages des Esslinger Puppenspielertreffs gezeigt. Foto: Simone Weiß
Die leere Hülle enthüllt immer mehr ihr wahres Gesicht. Eine Mega-Figur türmt sich langsam auf. Freundlich-bedrohlich. Eine Gestalt irgendwo zwischen Mann und Frau. Zwischen Sympathie und Horror. Zwischen rosa Plüsch und Brutalo-Image. Mit rot geschminkten Lippen, Elvis-Tolle im Trump-Orange, lackierten Fingernägeln. Mit Hilfe eines Kranes neben dem Neuen Rathaus wächst die Gestalt über sich hinaus. Auf gut 16 Meter schraubt sie sich in die Höhe.
„Kasper schlägt die Fliegen tot“, lautet dabei nicht nur der Titel des Stücks. Es ist auch eine Handlungsanweisung. Mit einer Fliegenklatsche bereitet die Riesenfigur den Fliegen den Garaus.
Ein bisschen Donald Trump steckt im Riesenkasper
Eine fesselnde Darbietung. Die künstlichen Insektenfühler auf ihrem Kopf überraschen daher nicht. Stefanie Oberhoff trägt sie aus Solidarität mit ihrem Team, aus Identifikation mit ihrem Stück, aus Sympathie für dessen Aussage. Aber für welche? Denn die etwa 40-minütige Performance transportiert viele Botschaften: Toleranz, Bekenntnis zur Diversität, das Herbeiführen des eigenen Untergangs, das blinde Hineingehen ins Inferno, gefährliche Nibelungentreue gegenüber Herrscherfiguren ohne kritisches Hinterfragen. Doch Stefanie Oberhoff verweist vor allem auf die Faszination und den derzeit wieder populären Aufstieg von Autokraten, Tyrannen, politischen Volksverführern. Die Anspielung auf US-Präsident Donald Trump, sagt die 58-Jährige, ist gewollt-ungewollt. Ein dezenter Hinweis mag noch angehen. Mehr nicht. Die Riesenpuppe ist eine Anklage gegen alle Populisten.
Vor dem Alten Rathaus wuchs der Kasper über sich hinaus – bis hin zu einer Riesengröße von 16 Metern. Foto: Simone Weiß
Die Theaterfrau liebt das große Theater. Gelernte Bühnenbildnerin ist sie. Hat früher für die Württembergische Landesbühne (WLB) in Esslingen gearbeitet. Hat hier also fast ein Heimspiel. Puppenspielerin ist sie auch. Mit der „Gräfin“, einer kleinen, gut 30 Zentimeter großen Handpuppe, ist sie ebenso unterwegs. Von klein bis groß – sie liebt die Abwechslung. In einem Stück, sagt die gebürtige Schondorferin, in „Punch Agathe“ geht es um ein Mädchen, das immer größer und größer wird. Das war die Geburtsstunde der Idee mit den großen Puppen. Die Figur, sagt Stefanie Oberhoff, wurde von ihrem Team aus einem besonderen Material in einer unendlichen Geduldsarbeit zusammengenäht.
Die Sache mit den Fliegen war reiner Zufall. Das Ensemble suchte für seine weitere Arbeit aus einem Impuls heraus etwas, das die Wände hochklettern könnte. Die Faszination Fliege war geboren. Vielen sind sie lästig, sagt Stefanie Oberhoff. Jeder kennt sie. Oft werden sie abgelehnt. Oft mit einem Handschlag verscheucht. Mit diesen Vorgaben lässt sich herrlich Theater machen.
Der Anti-Kasper kam beim Publikum auf dem Esslinger Rathausplatz bestens an. Foto: Simone Weiß
Seit März ist sie mit „Kasper schlägt die Fliegen tot“ in Deutschland und international unterwegs. Auf eine lange rote Nase, ein schelmisches Grinsen, ein Tollpatsch-Gehabe wurde bewusst verzichtet. Keine gängigen Kasper-Klischees. Ein Gegenentwurf entstand. „Der Kasper ist ja ein Mädchen“, hatte ein Kind im Esslinger Publikum gesagt. Da muss sie nicht einmal schmunzeln. Solche Reaktionen ist Stefanie Oberhoff gewöhnt. Ein kleines Stück von ihr steckt im Kasper-Outfit. Für seine Stiefel, sagt sie, wurde das Schnittmuster ihrer eigenen Hochzeitsschuhe verwendet.
Die Stiefel des Kaspers sind besonders groß
Vor ein paar Monaten seien sie in Leisnig in der Nähe von Leipzig mit dem Stück aufgetreten. Im dortigen Museum würden die weltgrößten Stiefel gezeigt – doch die Schuhe ihres Anti-Kaspers seien noch größer. Und mit seinem Auftritt in Esslingen hat er große theatralische Fußspuren hinterlassen.