Fünf Rentnerinnen und Rentner aus Australien sitzen am Donnerstagnachmittag im Gewandhaus. Den halben Weg um die Welt haben sie für Henry Handel Richardson auf sich genommen, die am Sonntag im Gewandhaus gewürdigt werden soll. Die australische Schriftstellerin studierte einst in Leipzig, das als Kulisse ihres Debütromans »Maurice Guest« von 1908 diente, der vor kurzem neu ins Deutsche übersetzt wurde und bei der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erschien. Die Reisegruppe aus Melbourne besteht aus Mitgliedern der Henry Handel Richardson Society, die sich seit 2008 dem Leben und Werk der Autorin widmet. Im Gespräch mit dem kreuzer erzählen die Gäste, warum Richardsons »Maurice Guest« noch heute von Aktualität ist.

Henry Handel Richardson, die in Deutschland zwar kaum bekannt ist, in Australien jedoch zu den bedeutendsten Schriftstellenden zählt, kam 1888 im Alter von 18 Jahren für ihre musikalische Ausbildung nach Leipzig. Am Königlichen Konservatorium – der heutigen Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« (HMT Leipzig) – studierte sie bis 1892 Klavier und Komposition. Ihre Leipziger Jahre verarbeitete die Australierin in jenem ersten Roman, der 1908 in England, wo Richardson später lebte, veröffentlicht und 1912 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Mit ihrem Literaturdebüt entschied sich Richardson, die eigentlich Ethel Florence Lindesay Richardson hieß, für ihren Künstlerinnennamen: Mit einem Pseudonym habe sie ihre Privatsphäre wahren wollen, den männlichen Namen habe sie gewählt, um ihre Chancen auf beruflichen Erfolg zu erhöhen, erzählt Janey Runci, die Präsidentin der Henry Handel Richardson Society.

»Maurice Guest« erzählt von einer Gruppe englischsprachiger Musikstudierender und der obsessiven Liebesbeziehung zwischen dem Engländer Guest und der Australierin Louise Dufrayer in Leipzig um 1890. Mit Dufrayers Charakter stellt Richardson ihren Roman in den Kontext feministischer Emanzipation, hinterfragt durch die vermeintliche Femme fatale klassische Rollenbilder in romantischen Beziehungen und patriarchale Strukturen des Lebens am Konservatorium. »Der Roman verhandelt zahlreiche Themen, die auch heute noch relevant sind. Louise ist eine selbstbestimmte, leidenschaftliche Frau, die sich in ihrer Freiheit weder durch Männer noch Kinder einschränken lassen würde«, sagt Runci. »Zudem werden Machtstrukturen und verschiedene Formen von Liebe und Beziehungen sichtbar; Dynamiken von emotionaler Besitzergreifung und psychischer Gewalt werden aufgezeigt.«

Insbesondere das Musikviertel mit der Musikhochschule und dem damals noch neuen Gewandhaus in der Beethovenstraße ist Schauplatz der Geschichte. Die Protagonisten beschreiben darüber hinaus den Bau der Bibliotheca Albertina, Abende am Brühl, Spaziergänge im Auwald oder Wege durch die heutige Leipziger Innenstadt. Damit zeichnet Richardson nicht nur ein tragisches, für das frühe 20. Jahrhundert modernes Drama, sondern auch ein lebendiges Bild einer Stadt, die schon damals international anerkanntes Zentrum für Musik war.

Neue Aktualität erhielt Richardsons Werk durch eine Neuübersetzung ins Deutsche aus dem Jahr 2020, realisiert von der Connewitzer Verlagsbuchhandlung, dem Literaturwissenschaftler Stefan Welz und dem Übersetzer Fabian Dellemann. Die frühere Übersetzung von 1912 habe die sprachliche Komplexität des Originals nicht hinreichend erfasst, schreibt Dellemann im Nachwort des Buches. Mit der Neuübersetzung hätten Welz und er versucht, die besondere Syntax, Zeichensetzung und Sprache Richardsons zu berücksichtigen. In den Augen der Society hätten es die Übersetzer damit geschafft, den Charakter des ursprünglichen, englischen Textes von 1908 beizubehalten.

Diesen Sonntag nun würdigt ein literarisch-musikalischer Abend im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses dieses Werk und seine Autorin. Schauspieler Dominique Horwitz wird Passagen aus der neuen Leipziger Übersetzung von »Maurice Guest« lesen. Das Grieg Quartett Leipzig und die australische Pianistin Tonya Lemoh gestalten das musikalische Begleitprogramm mit Werken von Richardsons Zeitgenossen, die ebenfalls in Leipzig lebten oder wirkten: Felix Mendelssohn Bartholdy, Ethel Smyth, Robert Schumann, Edvard Grieg, Alfred Hill und Johannes Brahms.

Auch auf eine zweite Veranstaltung zu Ehren Richardsons freuen sich die australischen Gäste: Am Montag, dem 20.10., bringen Studierende der HMT Kompositionen der Musikerin und Autorin auf die Bühne. Dieser zweite Abend wird um 19:30 Uhr in der Musikhochschule stattfinden – dem Ort, an dem Henry Handel Richardson vor mehr als 130 Jahren studierte.

> »Eine Australierin in Leipzig«, 19.10., 18 Uhr, Gewandhaus, Mendelsohn-Saal, Eintritt: 13–17€

> »Literarisch-musikalischer Abend zu Henry Handel Richardson«, 20.10., 19:30 Uhr, HMT, Grassistraße 8, Kammermusiksaal, Eintritt frei