MDR AKTUELL: Ich grüße Sie. Wie schmerzhaft ist es, mitunter Recht zu haben?
Karl Schlögl: Ja, natürlich tut es weh, wenn etwas über einen hereinbricht und ein bestimmtes Bild, das man sich von der Welt gemacht hat, dass das aus den Fugen ist und man sich neu orientieren muss. In gewisser Weise Abschied nehmen muss von dem, was man weiß, womit man sich vertraut gemacht hat. Und man muss sich neu diesen Horizont zusammenbauen, was in so unübersichtlichen Situationen wie jetzt ziemlich schwierig ist.
Wenn Sie sich zurückerinnern: Was war für Sie der Punkt, wo Sie gesagt haben, da braut sich was zusammen?
Ich habe es ja relativ spät bemerkt und ernst genommen. Im Grunde ist es bei mir mit einer Reise nach der Okkupation der Krim verbunden gewesen. Ich bin im Frühjahr 2014 in den Donbass gefahren und habe mit eigenen Augen diese Subversion und die Übernahmeversuche in Charkiw, in Slawjansk, in Donezk, in Mariupol und in Odessa beobachtet – und das ist eigentlich mein erster starker Eindruck gewesen, dass es hier ernst geworden ist und dass wir es mit Kriegstätigkeit, Kriegsaktivitäten zu tun haben.
Karl Schlögel
Der 1948 geborene Historiker gilt als einer der profundesten Osteuropa-Kenner in Deutschland. Für sein Buch „Terror und Traum. Moskau 1937″ erhielt er 2009 in Leipzig den Preis für europäische Verständigung. 2018 folgte der Preis der Leipziger Buchmesse für “ Das sowjetische Jahrhundert.“
In diesem Jahr wird Schlögel mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Ich muss vielleicht erklären, warum das so spät gewesen ist. Ich hatte eigentlich keine Illusion, was das Putin-Regime angeht. Dazu war ich zu eng mit den Freunden und Kollegen von Memorial seit den Endachtzigerjahren verbunden, aber ich war eigentlich überzeugt, dass die russische Gesellschaft resilient, widerstandsfähig genug sein würde, so sehr beschäftigt mit der Einrichtung ihres Alltags, ihres Lebens, dass sie sich auf solche abenteuerlichen Aktionen wie die Okkupation der Krim und dann die Subversion im Donbass nicht einlassen würde. […]
Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass die russische Gesellschaft sich in diese Stimmung versetzen lassen würde.
Karl Schlögel
Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass die russische Gesellschaft sich in diese Stimmung versetzen lassen würde. Nämlich den Krieg, jedenfalls was die Krim angeht, enthusiastisch mitzumachen, mitzufeiern und bis auf den heutigen Tag auch diesen ungeheuren Krieg gegen die Ukraine mitzutragen. Das ist ein großes Rätsel, wie man das eigentlich erklären kann.