Die Nachbarn des Backsteingebäudes schenken dem Gebäude kaum noch Beachtung. Über Jahre konnten sie zusehen, wie die Bewohner den Baukoloss von nebenan nach und nach verlassen haben. Sie sind gestorben oder weggezogen. So lange, bis irgendwann niemand mehr darin gewohnt hat. Während aus den Nachbargebäuden täglich Menschen herauskommen, sich auf den Balkonen herumtreiben, den Garten nutzen, steht das Gebäude mit der Hausnummer 68 und 70 nur da wie ein Sargstein ohne Grab, der denen den Weg versperrt, die dieses Haus mit Leben füllen wollen. Ein halbes Dutzend Wohnungen steht leer.
Wie konnte es zu dieser Verwahrlosung kommen, wenn gleichzeitig so viele Menschen nach Wohnraum in Stuttgart suchen? Wer sich auf die Suche nach den Besitzern dieses Hauses macht und den Grund für dessen unwürdiges Ende sucht, findet einen Teil der Antwort auf dem Klingelschild. Dort steht noch immer der Name der Familie H., die zuletzt zwei Stockwerke des Hauses bewohnt hat und deren Mitglieder vor vielen Jahren ausgezogen oder gestorben sind. Auch ein ehemaliger Bewohner des Hauses lässt sich bald ausfindig machen.
„Die Familie H. hat dieses Gebäude über Generationen hinweg bewohnt“
„Die Familie H. hat dieses Gebäude über Generationen hinweg bewohnt“, sagt der ehemalige Bewohner. Zuletzt habe die ehemalige Hausbesitzerin mit Anfang 90 im ersten Stock des Gebäudes gewohnt. Sie habe wohl schon vor dem Zweiten Weltkrieg dort gelebt, habe in dem Viertel ihre Kindheit verbracht und sich bei Luftalarm im Krieg in dem geräumigen Keller des Hauses versteckt. Sie sei in hohem Alter verstorben. Die Silvesterfeuerwerke, die jedes Jahr vor dem Haus auf dem Lukasplatz gezündet werden, hätten sie immer zu Tode erschreckt. Doch weggezogen sei sie dennoch nicht. Ein Nachkomme von ihr habe zunächst noch im obersten Stock gewohnt. Später sei auch er ausgezogen.
Der Garten ist völlig zugewachsen. Foto: Erdem Gökalp
In der anderen Hälfte des Doppelhauses sei der ursprüngliche Besitzer auch vor Jahren gestorben. Seine Söhne seien regelmäßig gekommen, um nach dem Rechten zu sehen, doch auch diese Besuche hätten bald nachgelassen. Stattdessen sei auch das Haus einfach verwaist. Irgendwann hätten dort polnische Handwerker gewohnt, doch auch diese seien dann weggezogen.
Sanierungsbedarf: Historisches Gebäude erfordert hohe Investitionen
Schon zur Zeit des ehemaligen Bewohners sei das Gebäude sanierungsbedürftig gewesen. Die Dusche sei in der Küche gewesen, es habe eine Gasheizung gegeben und die Fenster waren auch nicht mehr die neuesten. Es muss offensichtlich viel Geld in das denkmalgeschützte Gebäude gesteckt werden.
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Einst war die Kolonie Ostheim, wo das Gebäude steht, als Arbeitersiedlung ein Vorzeigeprojekt. Die markanten Backsteingebäude wurden in dem Viertel Ende des 19. Jahrhunderts errichtet. Die meisten Gebäude gehören heute dem Bau- und Wohnungsverein. Dieser bewahrt das Erbe des Sieldungsgründers Eduard Pfeiffer und seiner Idee einer Wohnsiedlung für Arbeiter und von Sozialwohnungen für Stuttgarter Bürger. Noch heute gibt es lange Wartelisten, um eine frei werdende Wohnung in dem Viertel zu erhalten.
Sanierungspläne für Geisterhaus: Verein bleibt vage
Bei einer Nachfrage stellt sich heraus, dass der Verein in den vergangenen Jahren tatsächlich in den Besitz dieses Geisterhauses gekommen ist. Auf mehrere Nachfragen gibt dieser jedoch nur wenig Auskunft darüber, warum das Gebäude heute noch immer leer steht. „Derzeit erfolgt die Planung umfassender Sanierungsmaßnahmen, um die Gebäude wieder nutzbar zu machen und langfristig einer rechtssicheren und zukunftsfähigen Vermietung zuzuführen“, sagt eine Sprecherin. Die Gebäude stehen demnach unter Denkmalschutz und befinden sich in einem stark sanierungsbedürftigen Zustand. Während die eine Doppelhaushälfte schon vor einigen Jahren im Besitz des Vereins war, sei die zweite Hälfte erst vor Kurzem gekauft worden. Es gebe bereits ein Sanierungskonzept und die Arbeiten sollen erst bei der einen dann der anderen Gebäudehälfte ausgeführt werden. Wann genau die Arbeiten beginnen und der Leerstand endlich behoben werden solle? – Auch darüber gibt es keine Auskunft.
Das Thema Leerstand ist in Stuttgart immer wieder ein großes Politikum. Weil es einerseits einen hohen Bedarf nach bezahlbarem Wohnraum gibt und anderseits eine hohe Zahl leer stehender Wohnungen. Es besteht also Bedarf nach genau der Art von Sozialwohnungen, die Eduard Pfeiffer einst in der Wohnsiedlung Ostheim vorgesehen hatte. Wie hoch der Leerstand in Stuttgart genau ausfällt, darüber gibt es unterschiedliche Interpretationen und Datenlagen. Laut des 2022 erhobenen Zensus liegt der Leerstand in Stuttgart bei 3,6 Prozent. Im Vergleich dazu liegt er in der Region Stuttgart oft bei 4 Prozent oder höher. Besonders gravierend ist die Lage eher im Osten Deutschlands, wo der Leerstand oft bei 10 Prozent und mehr liegt.
Vermieter in Stuttgart: Spekulation mit Leerstand?
Auch wenn die Lage in der Landeshauptstadt im Vergleich nicht so gravierend zu scheint, kochen auch hier die Emotionen bei dem Thema hoch. Erst vor kurzem wurden Vorwürfe laut, dass Vermieter Wohnungen nicht vermieten, um dadurch später höhere Gewinne erzielen zu können. Über die genaue Gründe, warum das Haus am Lukasplatze leersteht, gibt es bislang nur Gerüchte.
„Ich glaube, dass die neuen Besitzer erst beide Gebäudehälften besitzen wollten, bevor sie mit den Sanierungsarbeiten beginnen“, sagt der ehemalige Bewohner. Die Baukosten seien in den vergangenen Jahren auch erheblich gestiegen. Bis es wirklich so weit ist, bleibt es für alle Nachbarn nur übrig, abzuwarten. Währenddessen geht das Leben um das Gebäude herum noch immer weiter. Wenn die Besucher des Gottesdienstes von der Lukaskirche die Treppen zum Platz herunterlaufen, erhalten Sie meist einen guten Blick auf das Geisterhaus, von dem niemand so wirklich weiß, wann endlich wieder Leben einkehren wird. Doch über die bewegte Vergangenheit weiß man nun wenigstens ein bisschen mehr Bescheid.