Fast drei Jahrzehnte lang tanzte Sue Jin Kang beim Stuttgarter Ballett und machte mit einem ungewöhnlichen Gespür für dramatische Rollen ihre Auftritte zum Ereignis. Weil sie jeder Geste emotionales Gewicht und Tiefe zu geben verstand, wurde mit ihr als Tatjana John Crankos „Onegin“ zur Achterbahnfahrt der Gefühle; weil sie keine Scheu vor ungestümer Energie hatte, brachte sie als Katharina in „Der Widerspenstigen Zähmung“ das Publikum mit erfrischender Wildheit zum Lachen.

Jetzt war Sue Jin Kang, die seit 2014 in ihrer Heimatstadt Seoul das Koreanische Nationalballett (KNB) leitet, mit der eigenen Kompanie zu Gast beim Saisonstart des Tanz-Forums in Ludwigsburg. In zwei Vorstellungen war Marius Petipas Klassiker „Le Corsaire“ in einer Neuinterpretation des KNB-Solisten Jungbin Song Anlass für das Wiedersehen. Schon bei der ersten Show am Samstag war der Saal richtig voll, auch viele ehemalige Weggefährten Sue Jin Kangs, die 2007 von den Staatstheatern mit dem Titel „Stuttgarter Kammertänzerin“ geehrt wurde, wollten dabeisein.

Klassiker mit modernem Potenzial

Dass die alte Piratengeschichte junge Choreografen wie Jungbin Song inspiriert, könnte man sich mit dem Erfolg der „Fluch der Karibik“-Filmreihe erklären, die Abenteuer und Humor neu mischte. Schon vor mehr als 150 Jahren war auch Petipas Ballett ein solcher Renner, sodass der Choreograf immer wieder Szenen überarbeitete. Die Voraussetzungen für einen besonderen Ballettabend waren in Ludwigsburg also durchaus gegeben: da ist das Gespür der Ballettdirektorin für Drama und Emotionen, da ist ein rasanter Klassiker, der mit seiner Geschichte um Sklavenbefreiung, Verrat, Gier und Rache durchaus modernes Potenzial hat, zudem tanzt da eine bestens trainierte Kompanie.

In der Summe machte der „Corsaire“ aus Seoul aber vor allem deshalb Staunen, weil er sich einem Zugriff verweigerte, der individuelles Fühlen zum Fokus macht. Dieser vielleicht sehr europäischen Perspektive entzog sich Jungbin Song ebenso wie allen postkolonialen Fallen, die eine Erzählung bietet, an der ein Pascha und seine Haremsdamen beteiligt sind. Und so sind in diesem Piratenabenteuer aus Seoul vor allem Kollektive in so schöner Übereinkunft am Werk, dass für Drama und Tragik kaum noch Raum bleiben.

„Le Corsaire“ Foto: Koreanisches Nationalballett

Wir sehen in der Reihenfolge ihres Auftretens: Piraten an Deck, die fast unbemerkt die Gefangenen eines Sklavenschiffs befreien; charmante Mädchen, die auf dem Marktplatz einer Insel tanzen; die prunkvollen Hofdamen eines Königs, die sich unter Blumengirlanden bewegen; die Pirateninsel, wo buntes Volk und königliche Soldaten aufeinandertreffen. Das alles wirkt in der Summe wie eine fast endlose Verkettung von prunkvoll ausgestatteten Gala-Nummern, in perfekter Bravour absolviert und von vielen Verbeugungen gekrönt, aber eben auch ein bisschen blutleer und schablonenhaft. Und so wartet „Le Corsaire“ weiterhin auf einen zeitgemäßen Zugriff, der Gut und Böse überraschend neu sortiert. Das Warten verkürzt demnächst ein Gastspiel der São Paulo Companhia de Dança, die am 21. und 22. November Stücke von Marco Goecke und Shahar Binyamini mit ins Forum bringt.