Trotz Vision Zero und Millioneninvestitionen steigt die Zahl tödlicher Radunfälle in Hamburg. Der tragische Tod von Schauspielerin Wanda Perdelwitz heizt die Kritik an. Was macht die Stadt falsch?
An dem Ort, an dem Wanda Perdelwitz starb, steht ein weißes Fahrrad, ein Ghostbike – ein Geisterrad. Es ist ein Mahnmal für ihren vermeidbaren Tod. Als es aufgestellt wurde, kamen 800 Trauernde – es waren so viele wie noch nie, mehr als bei allen anderen tödlichen Fahrradunfällen zuvor. Die vielen Menschen brachten den Verkehr zum Erliegen. Einen Stau gab es hier auf der Straße An der Verbindungsbahn auch am letzten Septembersonntag, dem Schicksalstag für die beliebte Schauspielerin. Wie so oft, wenn sich der Autoverkehr in die Innenstadt schiebt.
Der Radfahrstreifen daneben verläuft im Schatten des S-Bahndamms, schnurgerade, leicht abschüssig. Die Radfahrer sind nur durch eine Fahrbahnmarkierung vom Schwerlastverkehr geschützt. Perdelwitz dürfte zügig unterwegs gewesen sein, als um genau 13.38 Uhr plötzlich die Beifahrertür eines grauen Campers aufgeht. Perdelwitz rammt gegen die Tür, knallt mit dem Kopf auf den Asphalt. Eineinhalb Wochen später gibt die Polizei ihren Tod bekannt. Gegen einen 28-jährigen US-Amerikaner wird wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung ermittelt.
Die 41-Jährige ist das elfte Opfer
Zehn Radfahrer starben in diesem Jahr bereits vor Perdelwitz. Die 41-Jährige ist das elfte Opfer. Es sind so viele tote Fahrradfahrer wie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. Die tödliche Serie begann im März, als ein Müllwagen einen Siebenjährigen überrollte, der mit seinem Fahrrad auf dem Gehweg gestürzt war. „Es macht fassungs- und sprachlos, was da abgeht“, sagt Dirk Lau, er ist Sprecher des Fahrradclubs ADFC in Hamburg.
Den Tag, an dem Perdelwitz verunglückt, wird Lau nicht vergessen. Der Fahrradlobbyist war an jenem Sonntag mit 70 anderen Radfahr-Aktivisten auf dem Weg zu einer Mahnwache in Barmbek-Nord, wo nur Tage zuvor ein Fahrradfahrer getötet worden war. Nach einer kurzen Demo vor der Innenbehörde starteten sie Richtung Norden. „Der Radfahrer, dem wir gedenken wollten, war auch ein Toter durch Dooring“ – also ein Unfall, bei dem ein Autofahrer die Tür seines Fahrzeugs aufriss, ohne nach hinten zu schauen. „Und dann passiert wieder so ein Unfall, in dem Moment, als wir die Mahnwache haben“, sagt Lau.
Der ADFC ist die größte Interessenvertretung für Radfahrer weltweit, mit einer eindeutigen politischen Agenda: mit Nachdruck zur Verkehrswende durch die Förderung des Radverkehrs. Fahrrad-Aktivist Lau ist einer der schärfsten Kritiker der Hamburger Verkehrspolitik. „Wir haben das Gefühl, dass jeder getötete Radfahrer, jede getötete Radfahrerin einfach in ein schwarzes Loch fällt, verschwindet, und es geht es einfach weiter wie bisher.“ Die Politik mache, was sie seit Jahren mache: „Hier mal was, da mal was. Aber auf die akute Bedrohung, wie sie viele Radfahrende wahrnehmen, reagiert sie nicht, weder emotional noch politisch.“
Vor mehr als drei Jahren hat sich die Stadt zur „Vision Zero“ bekannt hat, also dem Ziel, keine Verkehrstoten und Schwerverletzten mehr zu verzeichnen. Davon ist man aktuell sehr weit entfernt. 2014 gab es zuletzt elf getötete Radfahrer. Danach lag die Zahl lange im niedrigen einstelligen Bereich, bis sie 2023 plötzlich auf neun kletterte. Im vergangenen Jahr waren es zehn Tote. Aktuell elf. Brauchte es erst ein prominentes Opfer, um die Verantwortlichen aus ihrem Schubladendenken zu holen, wie Lau es sieht. Und gibt es Gründe für die Häufung tödlicher Unfälle?
„Mehr Fahrradfahrer, mehr Unfälle“
Die Polizei verweist auf die gestiegene Zahl an Fahrradfahrern: „Mit dem wachsenden Anteil von Fahrrädern steigt auch die Wahrscheinlichkeit von Unfällen, insbesondere in stark frequentierten Bereichen und an Verkehrsknotenpunkten“, erklärt ein Sprecher. 2024 habe es zudem knapp 2200 Verkehrsunfälle gegeben, bei denen die Fachdienststelle Radfahrer als Verursachende führte. Dagegen stehen 1715 Unfälle, bei denen Radfahrende Geschädigte waren. Außerdem: Im Vergleich der ersten Halbjahre 2024 und 2025 stieg die Zahl der Verkehrsunfälle mit Radfahrerbeteiligung um 8,6 Prozent, während die Gesamtunfallzahlen sanken. Heißt: Aus Sicht der Polizei sind Radfahrer nicht ganz unschuldig, wenn Unfälle passieren.
Es könne doch nicht sein, sagt hingegen Lau, dass es heiße, es sei logisch, dass mehr Radfahrer verunglückten, wenn auch mehr auf den Straßen seien. „Das ist zynisch. Mehr Radfahrer sind doch gewollt. Aber dann muss doch auch die Sicherheit parallel hochgefahren, also die Infrastruktur angepasst werden.“ Und da sei der Unfall von Perdelwitz ein typisches Beispiel: „Der Radweg liegt an einer der meistbefahrenen Hauptverkehrsstraßen und ist nicht nur völlig unterdimensioniert, sondern auch völlig ungeschützt.“
Solche Radfahrstreifen seien nach wie vor Standard, kritisiert Lau, insbesondere an den Hauptverkehrsstraßen. „Da wird nur instandgesetzt, aber der Straßenraum nicht neu verteilt. Das ist Verkehrswende in homöopathischen Dosen.“ Und die Polizei mache keine proaktive Verkehrssicherheitsarbeit, sondern sehe erst hin, wenn jemand sterbe. „Das ist fatal.“ Um weitere Dooring-Unfälle zu vermeiden, fordert der ADFC einen Mindestabstand von 1,50 Metern zwischen Radwegen und Autoparkflächen, zudem soll der „Holländische Griff“ zur Pflicht werden: Autofahrende sollen die Tür mit der gegenüberliegenden Hand öffnen, um sich automatisch umzudrehen und herannahende Radfahrer besser wahrzunehmen.
„Historisch gewachsene Infrastruktur“
Die Verkehrsbehörde sieht ein Problem in der „historisch gewachsenen Infrastruktur“, die sich durch mangelnde Trennung und Sichtbarkeit auszeichne und „oft zu engen, nicht ausreichend getrennten Verkehren“ führe, „was das Konfliktpotenzial erhöhe“, wie ein Sprecher erklärt. Es werde anerkannt, „dass die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte im Ausbau einer sicheren Radinfrastruktur nicht in wenigen Jahren vollständig aufgeholt werden können.“
Die Stadt unternehme umfangreiche Anstrengungen, um Verkehrssicherheit nachhaltig zu erhöhen, heißt es. Maxime sei die psychische Trennung von Auto-, Rad- und Fußverkehr und der Ausbau geschützter Infrastruktur. 2024 seien 73 Prozent der neu gebauten oder sanierten Radwege als Tempo-30-Fahrradstraßen oder als „protected Bikelane“ gestaltet worden, also durch Barrieren vom restlichen Verkehr getrennt. Man setze zudem auf Abbiegeassistenten an städtischen Bussen und Lastwagen, und auf „Aufgeweitete Radaufstellstreifen“, ein bürokratisches Wortmonster, das beschreibt, dass Radfahrer an Ampeln vor dem Autoverkehr stehen dürfen, um besser gesehen zu werden.
Die Behörde verweist auf den Erfolg des Bündnisses für den Radverkehr, der 2016 initiierten Kooperation verschiedener Behörden, Bezirke und Partner: „Der aktuelle Senat leistet eine beispiellose Bautätigkeit und Qualitätssteigerung.“
Dirk Lau kann sich den Jubelrufen nicht anschließen. Insbesondere durch das Parkplatzmoratorium, mit dem der Abbau von Parkplätzen vorläufig gestoppt wurde, sei der Weg zu einer fahrradfreundlichen, autoarmen Stadt viel länger geworden. Wie bei der innenpolitischen Auseinandersetzung um die Sicherheit am Hauptbahnhof habe sich die SPD auf CDU-Positionen eingelassen, statt offensiv zu sagen: Ihr profitiert auch von einer Verkehrswende. „Das hat dazu geführt, dass wir jetzt einen Stillstand, wenn nicht gar einen Rückschritt haben“, sagt Lau.
Philipp Heißner ist der offizielle Verkehrsexperte in der CDU-Fraktion, spricht von einem „grünem Kulturkampf gegen das Auto“. Er hatte die Unfallzahlen abgefragt, auf die auch die Polizei verweist und sagt: „Die Fahrrad-Unfallzahlen zeigen einmal mehr, dass die ideologische Verkehrspolitik des rot-grünen Senats in Hamburg fehlgeleitet ist. SPD und Grüne geben Hunderte Millionen Euro für die angebliche Förderung des Fahrradverkehrs aus, der wird aber immer unsicherer und ist zuletzt auch noch zurückgegangen.“ Der Rückgang wird durch den Senat bestätigt, der im Februar einräumte, dass der Radverkehr 2024 an Werktagen im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Prozent abgenommen hat.
Gesundheitsnutzen höher als das Unfallrisiko
Statistisch betrachtet sei der Gesundheitsnutzen von regelmäßigem Radfahren höher als das Unfallrisiko, sagt hingegen die Hamburger Verkehrsforscherin Philine Gaffron. Gesamtgesellschaftlich bedeute dies, „dass es sich in jedem Fall lohnt, das Rad durch attraktive und sichere Angebote zu einem noch deutlich häufig genutzten Verkehrsmittel zu machen.“ Man müsse, so die Expertin, zudem immer im Auge behalten, dass die Zahl der tödlich Verunglückten absolut betrachtet so klein sei, „dass geringe Veränderungen im Vergleich schon einen großen Unterschied machen“.
Bedauerlicherweise „existiere nicht die eine Strategie, die solche Tragödien verhindern kann“, dafür seien die Ursachen zu vielfältig. Einige Radfahrer wurden beim Überholen übersehen, andere beim Abbiegen oder beim Öffnen der Autotür. Dennoch gebe es Maßnahmen, die das Risiko deutlich minderten: eigene Ampelschaltungen für den Radverkehr, gerade an großen oder unübersichtlichen Kreuzungen. Durchgehende Radwege mit physischer Trennung vom Autoverkehr gerade an Hauptverkehrsstraßen. Eine zusammenhängende und sicher ausgebaute Infrastruktur.
Gaffron war lange an der TU Hamburg, ist Mitglied des Hamburger Klimabeirats, arbeitet beim Mobilitäts-Think-Tank „Agora Verkehrswende“. In Hamburg habe sich in den letzten Jahren einiges zugunsten des Radverkehrs getan, sagt sie. Der Ausbau müsse weitergeführt werden. Natürlich sei das auch eine Frage der verfügbaren Flächen. „An manchen Straßen muss der verfügbare Raum umverteilt werden“, sagt Gaffron. Wo nicht genug Platz für getrennte Infrastruktur sei, könne Tempo 30 helfen.
Welche Ziele sich Hamburg auch immer in den letzten Jahren gesetzt hat, mit dem erfolgreichen Zukunftsentscheid sind die Spielregeln auch hier neu gesetzt. Für den Radverkehr bedeutet das: mehr Radschnellwege, sichere Fahrradstraßen und ein flächendeckendes Tempo 30. Null-Emissions-Zonen und ein neues Wegweisungssystem sollen den Umstieg vom Auto erleichtern. Ob die ambitionierten Ziele greifen, hängt wohl davon ab, wie konsequent sie umgesetzt werden – und wie die Akzeptanz bei den Hamburgern ist.