Dass die Zinnen des Kremls so aussehen wie die auf manchen Festungsmauern in Norditalien, hat niemand so schön beschrieben wie Karl Schlögel. Die Herrscher des Großfürstentums Moskau hätten italienische Baumeister schon zu einem Zeitpunkt in ihre Ecke Russlands geholt, als an der Moskwa auch für viele Russlandkenner eher Waldeinsamkeit herrschte als die westeuropäische Renaissance, hieß es 1984 im Buch „Moskau lesen“.

Der Historiker veröffentlichte es zu einem Zeitpunkt, als sich im Schatten des Kalten Krieges bei zahlreichen Schriftstellern und Denkern der Gedanke an ein verlorenes Mitteleuropa beiderseits der Blockgrenzen ausbreitete. Schlögel, der 1948 geborene Bauernsohn aus dem Allgäu, konnte diesen Träumen, die wenige Jahre später in das Zusammenwachsen des geteilten Kontinents übergingen, einen entschiedenen Schritt weiter nach Osten hinzufügen.

Schon vor dem Fall der Mauer hatte er sich in der Sowjetunion umgetan. Die Hauptstadt des Landes nahm er in seinem ersten Buch als Nachfolger Walter Benjamins und seines „Passagenwerks“ aus vielen Blickwinkeln und voll überraschender Einsichten in den Blick.

Um des Friedens willen an den Krieg denken

Heute entfesselt Wladimir Putin vom einst italienisch aufgerüsteten Kreml aus immer neue Versuche, seine Invasion der Ukraine doch noch zum Abschluss zu bringen. Und Schlögel, in der Paulskirche und im 75. Jahr der Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, mahnt seine Zuhörer, um des Friedens willen an den Krieg zu denken: „Der Krieg, den Russland nach Europa zurückgebracht hat, wird nicht nur mit militärischen Mitteln geführt, sondern als Krieg um die Köpfe, mit Stimmungen, mit Ängsten, mit Ressentiments, mit Nostalgien oder als verlockendes Argument, zu Business as usual zurückzukehren.“

Die Ukrainer hingegen wüssten, dass ein „zu allem entschlossener Aggressor“ sich nicht durch Worte aufhalten lasse. „Sie sind Realisten, die sich keine Illusionen leisten können. Weil sie nicht Opfer sein wollen, wehren sie sich“, so Schlögel weiter. Sie seien auf alles gefasst. „Sie helfen uns, uns auf die Zeit nach der Zeitenwende einzustellen. Sie bringen uns bei, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat. Soldaten, und erst recht Soldatinnen, werden geachtet, weil alle wissen, dass sie ihre Pflicht tun und wozu sie bereit sind.“

Sie stünden unter dem von Putin eifrig geschürten Verdacht des Nationalismus und seien zum Kampf gezwungen worden, als „wir uns noch erlauben konnten, Fragen des ewigen Friedens“ zu diskutieren: „Sie sind der Spiegel, in den wir blicken, und der uns daran erinnert, wofür Europa einmal gestanden hat und weshalb es sich lohnt, es zu verteidigen.“

Ein leerer Stuhl in der Paulskirche für Boualem Sansa

Die „direkte Anschauung“ sei das Prinzip von Schlögels Schreiben, sagte die Journalistin und Autorin Katja Petrows­kaja in ihrer Laudatio vor zahlreichen Repräsentanten von Bund, Land, Stadt, Glaubensgemeinschaften, Wissenschaft und Buchbranche. Zu ihnen zählten neben Bundestagsvizepräsident Omid Nouripour (Die Grünen) Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Schlögels Denken sei geprägt von „Erfahrungsbereitschaft“ und der „Fähigkeit, zu beobachten“, führte Petrowskaja weiter aus. Just diese Eigenschaften hätten ihm geholfen, „der jetzigen Gegenwart furchtlos ins Gesicht zu schauen“.

Unvergesslich sei ihr sein Auftritt in einer Talkshow, in der er sich 2022 dafür entschuldigt habe, den Überfall auf die Ukraine trotz genauen Hinschauens seit dem Einsickern russischer Kräfte in den Donbass und der Besetzung der Krim nicht vorhergesehen zu haben: „Auf eine solche Entschuldigung hatte man vergeblich von den Politikern, Sicherheitsexperten oder sonst wem gewartet, die uns mit ihrem Wandel durch Handel den ewigen Frieden versprochen hatten und die auch nach 2014 weiter mit dem Kriegsverbrecher verhandelten.“

Schlögels Hinweis auf den Widerstandsgeist der Ukrainer nahm auf, was sein Vorgänger, der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan, im Oktober 2022 im Paulskirchenrund gesagt hatte. Seine Mahnung, sich vorzubereiten auf das, was noch kommen könnte, schloss an Äußerungen an, die am Rednerpult fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor die amerikanische Osteuropa-Kennerin Anne Applebaum getätigt hatte.

Für 720 geladene Gäste war Platz in der Paulskirche, ein Stuhl blieb leer. Er erinnerte an den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal, den Friedenspreisträger des Jahres 2011. Er sitzt in seiner Heimat seit Monaten in Haft.