Keir Starmer wählte markige Worte. „Wir können Anstand wählen oder Spaltung, Erneuerung oder Niedergang“, sagte Großbritanniens Premierminister Ende September auf dem Labour-Parteitag in Liverpool. Er sprach nicht nur zu seinen Anhängern – seine unmissverständliche Nachricht galt dem einstigen Brexit-Treiber Nigel Farage und der wachsenden Bewegung hinter dessen rechtspopulistischer Partei Reform UK. Es sei „ein Kampf um die Seele unseres Landes“.
Starmer zeichnete eine dramatische Kontrastlinie: zwischen einer demokratischen Mitte und einem politischen Abgrund, den er mit dem erstarkenden Rechtspopulismus verbindet. Denn die politische Tektonik im Vereinigten Königreich hat sich verschoben. In den neuesten Umfragen liegt Reform UK mit rund 30 Prozent an der Spitze. Labour, bei den Wahlen im Juli 2024 noch klarer Sieger, fällt auf etwa 20 Prozent zurück. Und die Konservativen, seit dem 19. Jahrhundert das Rückgrat der britischen Politik, dümpeln bei 17 Prozent – eine historische Demütigung.
Es droht ein Umbruch der alten Ordnung
Was sich da zusammenbraut, ist mehr als ein möglicher Machtwechsel. Es ist ein Umbruch, der die alte Ordnung im Vereinigten Königreich zu zerschlagen droht, in der die Sozialdemokraten und die Tories abwechselnd die Macht übernahmen. „Großbritannien“, so sagte es Starmer in Liverpool, „Großbritannien steht am Scheideweg.“
Doch warum erlebt Großbritannien den Aufstieg solcher Kräfte nach dem Brexit? Was würde es für Europa und die Ukraine bedeuten, wenn das Land politisch kippt? Und hat Starmer überhaupt noch eine Chance, das Ruder herumzureißen?
Beantwortet werden diese Fragen unter anderem im Kleingedruckten des Wahlrechts. Denn schon der Vorsprung von nur zehn Prozentpunkten könnte der rechtspopulistischen Partei bei den kommenden Wahlen zu einem Sieg verhelfen. Der Grund: Entscheidend ist in Großbritannien nicht der landesweite Stimmenanteil, sondern es gilt das Mehrheitswahlrecht. In jedem Kreis gewinnt nur jener Kandidat, der die meisten Stimmen erhält. Alle anderen werden wertlos. Entsprechend könnte Reform UK manchen Prognosen zufolge mehr als 300 Sitze im Parlament erhalten – und damit deutlich mehr, als es der bloße Prozentabstand vermuten lässt. Ein Effekt, der schon den Sieg der Labour-Partei im Juli 2024 größer wirken ließ, als er eigentlich war.
Tories droht das Aus
In anderen Worten: Was lange als Brandmauer gegen rechte Parteien galt, wird nun möglicherweise zum Hebel ihrer Stärke. Reform UK profitiert dabei, wie viele vergleichbare Parteien in Europa und darüber hinaus, vom verbreiteten Misstrauen gegenüber den etablierten Kräften. Als Labour die zusätzlichen Heizkostenzuschüsse für Rentner weitestgehend strich, stieß das auf breite Kritik – und die Maßnahme wurde zum Symbol für Reform UK, eine Partei, der es an sozialer Verlässlichkeit und klarer Linie mangelt.
Besonders tief sitzt auch der Vertrauensbruch durch den im Jahr 2021 aufkeimenden „Partygate“-Skandal, bei dem bekannt wurde, dass Abgeordnete und Beamte der damals regierenden Tory-Partei während der strengen Corona-Lockdowns in Regierungsgebäuden feierten. In diesem Klima wirkt Reform UK für manche als Ventil und als Signal des Protests. Vor allem frühere Tory-Wähler wandern zu Reform UK; bei den Kommunalwahlen im Mai hatten die Populisten die Konservativen in zahlreichen Kreisen bereits auf Platz zwei verdrängt. Experten halten es inzwischen für möglich, dass Reform UK die Tories de facto ersetzen könnte – zumal bereits etliche konservative Abgeordnete und Kommunalpolitiker zur neuen Partei übergetreten sind.
Reform UK präsentiere sich als „einzige echte Alternative“, erklärt Freddie Goff aus der englischen Großstadt Milton Keynes, ein junges Reform-UK-Mitglied beim Parteitag in Birmingham Anfang September. Die Partei inszeniert sich als Bewegung, die vor allem in der Migrationspolitik einen Kurswechsel verspricht: Dazu zählen die Festsetzung und Rückführung von Geflüchteten, die mit Schlepperbooten von Frankreich über den Ärmelkanal nach Großbritannien kommen, eine härtere Gangart bei Abschiebungen sowie der Plan, die Europäische Menschenrechtskonvention zu verlassen, um diese Maßnahmen durchzusetzen.
Islamfeindliche und homophobe Äußerungen
Dass einige Parteivertreter mit islamfeindlichen oder homophoben Äußerungen in die Schlagzeilen gerieten, scheint vielen Unterstützern entgangen zu sein. Denn nach außen setzt die Partei auf nicht offen rassistische Botschaften und nutzt soziale Medien offensiv, um diese auch jungen Wählern nahezubringen. Mit kurzen Clips wendet sich Nigel Farage regelmäßig an seine Unterstützer, sei es auf Youtube oder Tiktok. Aus dieser Inszenierung speist sich auch der Personenkult um ihn.
In Birmingham dominiert der 61-Jährige den Parteitag: Dutzende Plakate und Flyer zeigen sein Gesicht, bei Signierstunden bilden sich lange Schlangen. Als er in der Haupthalle auftritt, zischen Pyroeffekte, die Menge jubelt. Diese Showeffekte sind kein Beiwerk, sondern Strategie. Farage ist ein „Meister der Inszenierung“, sagt Tim Bale, Politologe an der Queen Mary University of London. Er ist witzig und wirkt authentisch; in Wahrheit spielt er wie andere Politiker eine Rolle, „nur eben besser“. Und: Reform-Anhänger schätzten charismatische, selbstbewusste, kontroverse und aggressive Führung – exakt Farages Profil. „Nigel“, so ist sich Freddie Goff sicher, könne der nächste Premierminister werden.
Brexit-Folgen schaden Farage nicht
Viele Briten unterstützen den früheren Brexit-Treiber enthusiastisch, obwohl der EU-Austritt klar negative Folgen hatte. Der Handel wurde komplizierter, Lieferketten teurer, und in vielen Branchen fehlt Personal. Experten sind sich einig: Der Ausstieg aus dem europäischen Binnenmarkt ist eine Bremse für das Wachstum der britischen Wirtschaft. Im politischen Umfeld von Farage hält sich jedoch die Überzeugung, der Austritt sei schlicht „nicht richtig umgesetzt“ worden. Diese Erzählung hält seine Anhängerschaft zusammen. „Statt Farage zu schaden, hat der Brexit-Prozess seine Sichtbarkeit erhöht“, sagt Robert Ford, Politikwissenschaftler von der Universität Manchester.
Klar ist aber auch: Die aktuellen Prozentwerte sind Momentaufnahmen. Bis zur nächsten nationalen Wahl, die spätestens im Sommer 2029 ansteht, bleibt noch Zeit. Labour kann in den Umfragen zulegen, wenn die Partei bei der Wirtschaft und beim angeschlagenen nationalen Gesundheitsdienst NHS sichtbare Ergebnisse liefert, so der britische Wahlforscher John Curtice. Denn in diesen Bereichen, so seine Einschätzung, trauen viele Wähler Reform UK wenig zu.
Der Reform-UK-Parteitag in Birmingham offenbart zudem Positionen, die im britischen Meinungsspektrum als randständig gelten. Mit festem Blick ins Publikum kündigt der Klimaleugner Christopher Monckton – eine schillernde, aber höchst umstrittene Persönlichkeit im Vereinigten Königreich – etwa an, „bis ans Lebensende“ gegen den „Klima-Unsinn“ anzutreten. Die Partei präsentiere sich nach außen deutlich moderater, doch mit zunehmender Größe wächst auch die Herausforderung, die unterschiedlichen Positionen zusammenzuhalten.
Fest steht: Ein Wahlsieg von Reform UK würde die Entfremdung zwischen Großbritannien und dem europäischen Festland wohl weiter vertiefen. Farages Partei tritt offen für eine Politik der Abschottung ein. Zu den zentralen Migrationsplänen der Partei zählt die Abschiebung von mehreren Hunderttausend Menschen, insbesondere Asylbewerbern, binnen weniger Jahre. „So viele Menschen abzuschieben würde einen Austritt aus internationalen Verträgen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) erfordern“, urteilt Olivia O’Sullivan von der Denkfabrik Chatham House.
Das Problem: Das migrationsfixierte, euroskeptische Drehbuch von Reform UK liefere „keine Antworten“ auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart. Etwa beim sensiblen Austarieren der Beziehungen zu den USA, Europa und China. Hinzu komme, so ihre Einschätzung, das realistische Risiko, „dass die USA ihre Rückendeckung für die europäische Sicherheit ganz zurückziehen“. Es sei offen, welchen Beitrag das Vereinigte Königreich unter einer Reform-Regierung künftig zur europäischen Sicherheitsarchitektur leisten würde.
Fragliche Haltung gegenüber Russland
Zwar habe Farage zuletzt die Unterstützung Kiews befürwortet, zugleich in der Vergangenheit aber erklärt, die Erweiterung von Nato und EU habe Russland „provoziert“. Diese Widersprüchlichkeit wirft Fragen auf: Wie klar würde sich der Reform-UK-Parteichef gegenüber russischer Aggression positionieren? Und wäre er bereit, sich langfristig an einer „Koalition der Willigen“ zur Unterstützung der Ukraine zu beteiligen?
Ein möglicher Rückzug aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie ihn Reform UK vorschlägt, hätte überdies weitreichende Folgen für Nordirland. Ein solcher Schritt könnte das Karfreitagsabkommen gefährden – jenen Friedensdeal, der 1998 in Belfast unterzeichnet wurde und den jahrzehntelangen gewaltsamen Konflikt in der Region weitgehend beendete. Der Ausstieg aus der EMRK könnte neue Spannungen auf der irischen Insel hervorrufen. Vor diesem Hintergrund ging Keir Starmer wohl kaum zu weit, als er Reform UK eine spaltende Wirkung attestierte – nicht nur mit Blick auf die britische Gesellschaft, sondern auch auf das empfindliche Gleichgewicht in Europa.