Interview | Migrationsforscher zu „Stadtbild“-Debatte
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„Ich habe das Gefühl, dass bewusst versucht wird, verbal nach rechts zu laufen“
Mo 20.10.25 | 18:57 Uhr | Von Sabine Priess
Bild: dpa/Matthey
Die Aussagen von Bundeskanzler Merz über ein „Problem“ im Stadtbild in Bezug auf Migration sind aus Sicht von Soziologe Daniel Kubiak rassistisch – und haben historische Parallelen in der Nazi-Zeit.
rbb24: Herr Kubiak, es empören sich gerade viele Menschen über die Aussagen von Bundeskanzler Merz über ein angebliches „Problem im Stadtbild“, dem man mit Rückführungen begegnen wolle. Damit kann er ja fast jeden sichtbaren Migrationshintergrund gemeint haben. Sollten sich auch alle diese Menschen gemeint fühlen?
Kubiak: Also erstmal habe ich das Gefühl, dass sich sehr viele Menschen gemeint gefühlt haben. Zumindest die, die diese Interviewaussagen gehört haben. Wir haben ja auch gesehen, dass sich sofort viel Kritik und Empörung im Internet gezeigt hat. Und in vielen Städten sind Leute auf die Straße gegangen, um zu zeigen, dass man so eine Aussage als Bundeskanzler nicht treffen kann.
Ich finde die Aussage von Merz so oder so schlimm. Man macht vielleicht Aussagen im Wahlkampf oder will als Parteivorsitzender polemisieren. Aber wir müssen ernst nehmen, dass er diese Aussage als Bundeskanzler getroffen hat, in seinem Amt, bei einem Antrittsbesuch. Bei solchen Terminen und in dieser Rolle müsste er theoretisch für alle Deutschen sprechen. Das hat er ganz offensichtlich nicht getan.
Ist es denn in Ihren Augen ungewöhnlich, dass ein Kanzler so etwas über Teile seines Volkes sagt? Auch Menschen, denen man ihren Migrationshintergrund „ansieht“, haben ja heute vielfach längst in zweiter oder dritter Generation die deutsche Staatsbürgerschaft.
Kubiak: Wir müssen aufpassen, dass wir gar nicht erst in die Falle tappen, dass wir glauben, wir könnten Menschen ihren Migrationshintergrund ansehen. Ich glaube nicht, dass jemand sich sicher sein könnte, Ukrainer:innen oder Französ:innen im Stadtbild zu erkennen. Und viele Menschen, denen man vielleicht zuspricht, sie seien migriert, haben den deutschen Pass in der dritten Generation.
Anton Wilhelm Amo, ein schwarzer deutscher Philosoph, nach dem zuletzt eine Straße benannt wurde, hat schon vor 300 Jahren in Deutschland gelebt. Es gibt also eine sehr viel längere Geschichte von nicht-weißen Personen in unserem Land, als viele vielleicht denken.
Zur Person
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Soziologe –
Daniel Kubiak
Dr. Daniel Kubiak ist Soziologe am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht zu Nachwende-Identität, ostdeutscher und urbaner Migrationsgesellschaft und Erinnerungspolitik.
Ist die Aussage von Merz außergewöhnlich für einen deutschen Bundeskanzler?
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich so eine Aussage jemals von Angela Merkel oder Olaf Scholz gehört hätte. Ich kann mich ganz im Gegenteil daran erinnern, dass Angela Merkel in einem ihrer Interviews nach ihrer Kanzlerschaft explizit noch einmal betont hat, dass es ihr immer wichtig war, die Kanzlerin für alle Deutschen zu sein. Und damit explizit darauf eingegangen ist, dass sie eben die ganze Vielfalt in Deutschland meinte. Da mache ich mir tatsächlich um den aktuellen deutschen Bundeskanzler große Sorgen, gerade aus Migrationsforschungsperspektive.
Ich habe ja gehofft, dass Merz die Aussage so rausgerutscht ist, und dass er sich entschuldigt. Das wäre auch angemessen gewesen. Aber der Bundeskanzler hat ja nochmal nachgelegt und hat zur rassistischen Aussage – und ich würde die ganz bewusst rassistisch nennen, weil sie auf rassistischen Ansichten über die Gesellschaft beruht – noch eine sexistische Aussage gepackt: Wenn es um den Schutz von Frauen geht, dann müsse man doch nur mal die eigenen Töchter fragen, dann wisse man, was gemeint sei.
Er meinte: „Wer Töchter habe” – es ging ihm also nicht um die Töchter selbst, sondern um die Eltern.
Das ist etwas, was wir in der Migrationsforschung kennen: Dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Meine Hoffnung wäre, dass alle heute Abend ihre Töchter mal fragen und dann wirklich die Antworten ernst nehmen. Ich bin mir sicher, die seltenste Antwort ist, dass jetzt Rückführungen irgendein Problem für Menschen lösen, die sich in der Stadt unsicher fühlen.
Daniel Kubiak
Können Politiker heute einfach sagen, was sie wollen, und die Menschen lassen das stoisch an sich abprallen?
Also stoisch an sich abprallen lassen, das stimmt so nicht. Ich nehme eine große Empörung wahr. Ich finde es auch wichtig, dass es diese Empörung gibt. Ich lasse mich als jemand, der dazu forscht, auch nicht damit abspeisen, dass man sagt: Durch die Empörung würde man die Gesellschaft noch weiter spalten. Sondern ich glaube, dass es wichtig ist, dass man auch auf solche Aussagen reagiert.
Es sind ja nicht die ersten solchen Aussagen, die wir vom jetzigen Bundeskanzler, früheren Wahlkämpfer und CDU-Parteivorsitzenden Merz gehört haben. Ich habe das Gefühl, dass bewusst versucht wird, verbal nach rechts zu laufen. Aus der Sicht eines Migrationsforschers und aus wissenschaftlicher Perspektive macht mir das wirklich Angst, denn es ist wissenschaftlich absurd, was er gesagt hat, es ist politisch sehr gefährlich und es zeugt auch menschlich nicht von Anstand, wie er es ausgedrückt hat.
Dass er meint, das als Bundeskanzler tun zu müssen und es dann auch nochmal wiederholen muss – das erinnert mich an Zustände in den USA, aber auch an Zustände in der Türkei oder in Ungarn. In diese Richtung weiter zu laufen, wird kein erfolgreicher Weg sein für eine demokratische Gesellschaft wie die deutsche.
Gibt es denn historische Parallelen, wie bestimmte Gruppen aus dem Stadtbild verdrängt oder problematisiert wurden?
Wir kennen zum Beispiel die Aussagen von Joseph Goebbels, der jüdische Menschen im Stadtbild zu einem Problem erklärt hat und gesagt hat: Wir müssen dieses Problem „lösen“. Wir kennen auch die Geschichte, wie das „gelöst“ werden sollte.
Ich habe jetzt diese Verbindung hergestellt von Merz‘ Aussage zu den Nazis. Das ist eine harte Verbindung. Und ich unterstelle Friedrich Merz nicht, dass er eine Nähe zum Nationalsozialismus hat. Gleichzeitig ist es mir aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir diese Bilder, die dort benutzt werden, historisch kennen. Auch deswegen ist es für mich schwierig zu akzeptieren, dass Merz das in der Rolle des Bundeskanzlers sagt.
Die Erzählung von der „problematischen Stadt“ allgemein gibt es übrigens schon lange. Georg Simmel, einer der Begründer der Stadtsoziologie, hat sich mit der Stadt auseinandergesetzt, weil damals Menschen vom Land in die Stadt gekommen sind und die Leute in der Stadt gesagt haben: Wir wollen eigentlich nicht diese Bauern hier bei uns. Also: Diese Erzählung von Störenden in der Stadt ist schon sehr alt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Beitrag von Sabine Priess