
Stand: 21.10.2025 06:00 Uhr
Friedrich Ani gehört seit vielen Jahren zu den absoluten Stars der deutschen Krimiszene. In diesem Herbst ist ein schmaler Band von ihm erschienen, in dem er die Geschichte seiner Kindheit erzählt.
Es beginnt in einem Dorf in Bayern, Ende der 50er-Jahre. Ein junger Arzt aus Syrien verliebt sich in eine Frau, die aus einer Familie der sogenannten Heimatvertriebenen aus Schlesien stammt.
Wie war das bloß möglich, soll die Großmutter des Erzählers, selbst Mutter mehrerer Kinder, ausgerufen haben, als sie erfuhr, dass ihre Tochter schwanger war von einem studierenden Araber. Friedrich Ani erzählt von diesem seltsamen Paar, den Eltern seines Ich-Erzählers und dem Riss, der offenbar durch dessen Seele ging, die Unvereinbarkeit so unterschiedlicher Kulturen und Gene.
In den ersten Jahren bleibt die Beziehung der Eltern auf Distanz. Der Sohn wächst in Bayern in der Familie seiner Mutter, also bei den Großeltern auf:
Umarmen zählte nicht zu den Verhaltensweisen in den Zimmern meiner Herkunft. Hände und Arme dienten eher einer geschmeidigen Form von Terrorismus bei der Erziehung eines Kindes oder zum Zerkleinern des Alltags in für Nachbarn und sonstige Gucker mundgerechte Portionen.
Leseprobe

Kinder ertrinken unter mysteriösen Umständen auf der Nordseeinsel Juist. Eine Rache der Wellen an denjenigen, die sich einbilden, das Meer spielend zu beherrschen?
„Schlupfwinkel“: Unvergleichliches Lesevergnügen
Es ist Friedrich Anis große Meisterschaft, alle Wörter gegen den Strich zu bürsten und noch einmal ganz ungewohnte Kombinationen zu wagen. Das macht seinen Text zu einem unvergleichlichen Lesevergnügen, weil man immer wieder mitdenkend herausgefordert wird. In seinem Text hat offenbar schon das Kind eine Begabung, nicht den üblichen Denkmustern zu folgen.
Kameltreiber. Den Spitznamen hatten sie meinem Vater verpasst, Mutter oder Großmutter oder beide zusammen…. Mir gefiel die Vorstellung von meinem Vater als einem Mann, der Kamele hütete wie bei uns der Bauer K seine Schafe.
Leseprobe
Erst als der Vater fertig ausgebildeter Arzt ist, heiraten die Eltern, aber wirklich nahe kommen sie sich nicht – so erlebt es der Sohn, der so gern Geschwister gehabt hätte, um mit all dem nicht allein zu sein. So formuliert es die Hauptfigur in diesem Buch „Schlupfwinkel“, wo ein Kind nach Möglichkeiten sucht, Schutz, Trost, ein sicheres Zuhause zu haben. Gelegentlich besucht er inzwischen als Erwachsener den Vater, den er nach wie vor den „Syrer meiner Mutter“ nennt und mit dem die Treffen von einer tiefen, unstillbaren Sehnsucht und Melancholie geprägt sind. Georg, die Hauptperson in Friedrich Anis Buch, hat es schwer mit sich, den anderen, dem Leben.
Stattdessen verbarrikadierte er sich hinter getippten Sachen. Die Schreibmaschine beherrschte er immerhin.
Leseprobe

Friedrich Ani verrät, wie der Nebel auf Juist seinen Krimi „Die Wut der Wellen“ inspiriert hat.
Friedrich Anis raffinierte Wortkunst
Die Gabe, Verschwiegenes zu formulieren, mit Wörtern gedankliches Neuland zu erobern, das Leben von gewöhnlichen Warten aus überraschend und anders wahrzunehmen, beherrscht Friedrich Ani mit kühner Brillanz. Wie bei seinen Krimis kann man sich über viele Sätze dieses autobiografischen Textes staunend beugen und versuchen sie zu deuten.

Schlupfwinkel. Fantasien über eine fremde Heimat
von Friedrich Ani
- Seitenzahl:
- 128 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- ISBN:
- 978-3-518-47517-1
- Preis:
- 18 €
Schlagwörter zu diesem Artikel